Montag, 25. Juni 2012

Verordnung A-11



Die Verordnung A-11 des amerikanischen Verteidigungsministeriums schrieb in den frühen 1940ern den Herstellern von Armbanduhren für die US-Armee vor, wie eine solche Uhr auszusehen und welche Funktionen sie aufzuweisen hatte. Das Ergebnis wurde auch als „Musteruhr“ bezeichnet und strahlte wegen seiner puristischen Funktionalität, aber auch wegen der ‚gleichmacherischen’ Qualität bald in die Zivilgesellschaft ab. 
Es gab von Hersteller zu Hersteller kleine Unterschiede in den Details, aber im Prinzip gehorchten sie alle der Verordnung A-11. Andere Staaten, vor allem Alliierte, schlossen sich dem an. Zahllose Soldaten nahmen diese Zeitmesser danach mit ins Zivilleben. Man findet heute noch viele funktionstüchtige Exemplare, denn die Dinger laufen und laufen. Das Problem mit den Originalen ist jedoch, dass man als Kunde (etwa auf eBay) nie so genau weiß, was man da kriegt. Die Uhren sind nun mal recht betagt. Und die alten Handaufzug-Gangwerke haben mitunter ihre Macken. Mehrere Minuten Zeitabweichung pro Tag sind möglich. Außerdem sind die meisten recht klein, weswegen sie heutzutage als Alltagsuhren nicht mehr recht praktikabel oder vorzeigbar erscheinen. Moderne Nachbauten, die mit präziseren Gangwerken ausgestattet sind, wecken da schon eher mein Interesse. 
Diese Uhr nun ist ein solch qualitätsvoller, schnickschnackfreier Nachbau einer A-11, die der Hersteller auf etwa 1943 datiert. Ein Statement des Reduktionismus. Simpel und kostengünstig, denn sonst wäre es nicht echt. Rein mechanisch mit Handaufzug und der damals neuen „Hack“-Funktion (Sekundenstopp). Keinerlei schriftliche Verlautbarungen auf dem Zifferblatt, nicht mal der Herstellername. Nicht zu groß, nicht zu klein. Signifikant für die erste amerikanische A-11-Generation sind die Minutenangaben in Zehnerschritten auf einem äußeren Indexring.
Für den im Quarz-Zeitalter großgewordenen Uhrenträger bedeutet dies natürlich, dass er sein selbstverständliches Laissez-faire ablegen und zum disziplinierten Charakter reifen muss. So, wie es früher war. Eine solche Uhr will nämlich einmal am Tag aufgezogen werden. Per Hand. Ich fürchte, heutzutage sind viele Leute mit so etwas völlig überfordert.
Die Ganggenauigkeit ist indes faszinierend. Nur kleine Abweichungen. Der Sekundenzeiger gleitet dabei in solch feinen Rucken übers Zifferblatt, dass es fürs menschliche Auge aussieht wie eine einzige fließende Bewegung. Die Uhr ist sehr leise, wenn man sie sich aber ans Ohr hält, vernimmt man nicht das Tick-tick-tick neumodischer Gangwerke, sondern das stetige helle Pluckern der Mechanik. Gegen diese sinnliche Schönheit wirkt eine Quarzuhr wie ein Bauerntrampel.

Samstag, 23. Juni 2012

Gratis! Pepsi!

Super, heute kam endlich die Gratis-BILD zum 60. Geburtstag, deren Ankündigung schon seit einigen Monaten für anhaltende Zornesröte unter Progressiven sorgt. „Frei-BILD für alle! Rekordauflage!“, ruft derweil Chefredakteur Herr Glitschmann in seinem Grußwort und kümmert sich überhaupt nicht um die Röte der Progressiven. Offenbar ist keiner bei uns im Haus progressiv und hat Widerspruch erhoben gegen die Auslieferung, denn BILD lugte aus allen verfügbaren Briefkästen. Ich lese derweil gebannt, was die Reptilien uns mitzuteilen haben, und nehme nickend zur Kenntnis, wen von ihren Artgenossen sie für ihre Volksbeglückungsaktion so alles einspannen konnten. Außerdem erfährt man ganzseitig, dass bei Lidl die limitierte Pepsi-Edition 42% billiger ist. Warum ist die nicht gratis? Egal, geh ich hin, Montag.

Claes Oldenburg in Dodge City

Claes Oldenburg – The Sixties im Museum Ludwig. „It may not be pop art, it may be something else”, sagt eine der Pop-Art-Ikonen. Ja, genau, der Künstler ist bei der Eröffnung anwesend und spricht zu uns. Ein sympathischer, humorvoller alter Herr im Übrigen. 
Prägend für Oldenburgs Sechziger ist die Transformation. Alltagsobjekte mit für gewöhnlich festen Formen werden weich und labbrig und scheinen in sich zusammenzusinken. Zur besseren Verdeutlichung dessen werden sie von vornherein gerne mal ins Riesenhafte aufgebläht und gewinnen schließlich surreale Qualitäten. Zusammengesackte Sanitärkeramik aus Vinyl, Tortenstücke aus Segeltuch, Werkzeug, ein drei Meter hoher, zusammenfallender Ventilator. Die komisch-verstörende Analyse einer unsicheren Welt. Mein Favorit ist natürlich die „Soft Toilet“ von 1966. Zu bewundern gibt es auch die Installationen mit gebastelten Lebensmitteln oder Konsumartikeln („The Shop“), deren Oberfläche und scheinbare Konsistenz etwas ganz anderes zu suggerieren scheinen als das, was es eigentlich darstellen soll. Auch das kündet vom bedrohlichen Eigenleben der Objekte. Highlight sind natürlich auch das „Mouse Museum“ (nur von oben als solches erkennbar!), in dem man stundenlang exzentrischen Krimskrams und Miniaturen studieren könnte, sowie der „Ray Gun Wing“, in dem Pistolen von der totalen Abstraktion ins Konkrete und wieder zurück geführt werden. 
Die Promi-Dichte hält sich diesmal in Grenzen. Ich identifiziere lediglich den gefeuerten Opernintendanten, Peer Steinbrücks Bruder, den-Mann-den-sie-Nase-nennen, den-Mann-der-mit-dem-Fahrrad-kommt, die bullige Muse, die elfenhafte Muse sowie etwas lokalen Geldadel. Angesichts der Tatsache, dass die Nation sich auf ein Viertelfinale vorbereitet, ist es ziemlich gut besucht, leert sich aber gegen 20.30 Uhr. Im Gegensatz zu neulich bei der Lichtenstein-Eröffnung ist die von mir heimlich angebetete Marietta Slomka diesmal nicht da. Als ich später während der Halbzeit das heute-journal sehe, weiß ich auch, weshalb. Sie hat Dienst in Mainz, zusammen mit meinem hartnäckigen Rivalen Heinz Wolf, der ihr nie von der Seite weicht. 
Auf der Rückfahrt nach Hause – während der ersten Halbzeit – wirkt die Stadt wie die Pop-Art-Ausgabe von Dodge City nach der Neutronenbombe. Überall Tumbleweeds, und an den Straßenecken drücken sich einige mutierte Gestalten in Staubmänteln herum. Auch in der Postkutsche – ähm, U-Bahn – kein Überlebender. Kurz vor der Haustür fällt das erste Tor, und hinter den Kulissen von Dodge City erhebt sich auf einmal körperloses Jubelgeschrei und hallt übers Set.

Donnerstag, 21. Juni 2012

Captain Lockheed & The Starfighters

Vor dem Hören von Robert Calverts Captain Lockheed & The Starfighters von 1974 könnte es natürlich hilfreich sein, sich die deutsche Starfighter-Affäre noch mal vor Augen zu führen, einige Fakten zu recherchieren und zu versuchen, sich in das Klima der damaligen Zeit einzufühlen. 
Das Album war Calverts erste Solo-Platte. Er stemmte sie als Session-Großprojekt, zu dem er allerhand Musiker, Sänger und Sprecher einlud. Es ist erwartungsgemäß die gesamte damalige Hawkwind-Crew mit an Bord, inklusive Brock, Turner und Kilmister. Simon Kings wummerndes Schlagzeug ist unverkennbar. Mit von der Partie sind ebenso Snowy White (Pink Floyd, Thin Lizzy), Paul Rudolph und Twink (Pink Fairies) sowie Brian Eno (Roxy Music). Unter den Sprechern und Sängern finden sich ausgewiesene Exzentriker wie Vivian Stanshall (Bonzo Dog Band, Monty-Python-Umfeld), Arthur Brown und Jim Capaldi.
Das Cover zeigt drei Starfighter-Miniaturen über einem Kamin im Formationsflug; auf der Rückseite sind die Flugzeuge von der Wand gefallen und liegen in Scherben vor dem Kamin. In das originale Klappcover sind alle Texte des Albums als Libretto eingeheftet. Ein Einführungstext erklärt dem Rezipienten die Hintergründe.  
Calvert war begeistert von der Militärfliegerei und spielte sogar mit dem Gedanken, in die Royal Air Force einzutreten. Seine eher schwächliche Konstitution verhinderte das allerdings. Die Affäre um den Starfighter weckte sein Interesse sowohl als Fliegerei-Enthusiast wie auch als Satiriker, wobei damals durch die Presse so langsam einige Vorgänge aus dem gemeinsamen Darkroom von Militär und Wirtschaft ruchbar wurden, die auf Bestechung und skrupellose Profitmaximierung hinwiesen. 
Die Sache beginnt mit den Geräuschen von Propellerflugzeugen und einem zornigen Franz-Josef Strauß während einer Luftwaffenvisitation: „Even the Red Baron himself would laugh at such antiquated aeroplanes. This is not an airforce, this is an air circus!" Kurz darauf tauchen die amerikanischen Waffenhändler auf, die Calvert als obercoole Opportunisten karikiert, die den Kunden, namentlich Strauß, weich klopfen, indem sie an seine Großmannssucht appellieren. Eben dieser von revanchistischen Gefühlen getragene Drang zum „Wir sind wieder wer“ macht die Deutschen zu leichten Opfern der amerikanischen Vermarktungsstrategien. Strauß wird charakterisiert als polternder, schreiender, überbordend romantischer Alleinerbe Görings, der die deutsche Luftwaffe wieder zum Prestigeobjekt machen will. „Out of the ashes of defeat, a shining silver bird arising ... We will soar up the skies with our gleaming needles. The world we’ll be!” Nicht nur werden jegliche Bedenken hinsichtlich der Tauglichkeit der F-104 vom Tisch gewischt („We will make some modifications“), es werden den Deutschen auch sage und schreibe 700 Exemplare eines noch ungetesten Jets angedreht. Aber als der Amerikaner Strauß in Aussicht stellt, die so modifizierte F-104 in F-104G („G for Germany“) umzubenennen, ist es um den Minister und seine zackigen Berater („Ja, Herr Minister!“) ohnehin geschehen: „G for Germany. Also, G for Gott strafe England!“
Die weiteren Spielszenen des Albums beschreiben den täglichen Umgang der Luftwaffe mit dem in Dienst gestellten Jet. Etwa den bizarren Enthusiasmus der Testpiloten. Oder die völlige Unfähigkeit der Bodenmannschaft, ein loses Triebwerk zu befestigen. Ein absoluter Klassiker ist der „Last Minute Cockpit Check“, bei dem der Tower mit dem auf der Startbahn stehenden Piloten nicht etwa die Bordinstrumente durchgeht, sondern ihm eine ziemlich lange Liste mit Beruhigungsmitteln vorliest („Valium, ten milligrams – Check. Haloperidol, five milligrams - Which ones? - The little white ones - Little white ones, okay. Check … A glass of water – Check“). Die Stimme des Piloten wird während der Einnahme der Medikamente immer trüber und langsamer, vor dem Start folgt noch ein Vaterunser. 
Der Höhepunkt unter den Spielszenen ist jedoch zweifellos das „Vorstellungsgespräch“, in dem ein Kadett namens Von Trippenhof hinsichtlich seiner Tauglichkeit als Starfighter-Pilot getestet wird. Der offenbar völlig gestörte Bursche sprudelt derart über vor germanischer Todessehnsucht, wagnerianischem Untergangspathos und suizidalem Überschwang, dass der Hörer sich vor Lachen in die Hose macht. Als der Kadett dann auch noch mit der absurden Geschichte aufwartet, wie seine Mutter den vom Vater erfundenen „Gasseo glider“ einhändig über den Atlantik fliegen wollte und tragisch scheiterte, ist seine Tauglichkeit erwiesen. In einer weiteren Spielszene hören wir einen Barbershop-Chor von Ministern und Staatssekretären, die ihren Rücktritt ankündigen, ehe vor Biergarten-Geräuschkulisse ein damals in Deutschland weit verbreiteter Starfighter-Witz erzählt wird: „Willst du einen Starfighter haben? Dann kauf dir einen Acker und warte.“ 
Die dazwischen platzierten Songs überhöhen den satirischen Gehalt zu poetischen Rauschzuständen. Sie sind oft losgelöst von der konkreten Starfighter-Affäre und beschäftigen sich mit der Luftfahrt generell: der Widernatürlichkeit des Fliegens, dem grandiosen Überwinden der Anziehungskraft, dem Rausch der Technik, dem Heroismus und der buchstäblich bodenlosen Arroganz der Fliegerkaste, dem glorreichen Scheitern, der Faszination des Irrationalen, dem Prinzip „Pech“. Auch ihnen wohnt ein Element heroischer Todessehnsucht inne, eine gehörige Portion spezifisch teutonischen Vernichtungs- und Selbstvernichtungstriebs und immer wieder die romantische Tragödie des Scheiterns an der hehren Ambition. Durch haltlose Überzeichnungen und lyrische Späße wird die Tragödie allerdings zur Groteske umfunktioniert. In „Hero With A Wing“ gerinnt das unter mystischen Celtic-Folk-Klängen zu einer komischen Todestraum-Elegie. Der Höhepunkt der ganzen Platte ist wahrscheinlich der avantgardistisch gestaltete, zweiteilige „Song of the Gremlin“, in dem die Verantwortung für Abstürze und Todesfälle jenem Kobold zugeschrieben wird, der in der Technik wohnt und alles, was Menschenhand konstruiert hat, von innen heraus wieder dekonstruiert. Arthur Brown übernimmt die Rolle des Gremlin und stellt ihn vor zischenden Drums, flirrendem Piano und Vocoder-Effekten dar als drollig kreischende, böse Entität, die Technik genauso innig hasst wie Menschen.
Die Songs „Aerospaceage Inferno“, „Ejection“, „The Widow Maker” und „The Right Stuff” sind stoische, treibende Hardrocker im Hawkwind-Stil, transparenter und entschlackter als die Bandstücke der damaligen Zeit, dennoch aufgerüstet mit einschlägigen Soundeffekten wie Triebwerks- und Crash-Geräuschen sowie Funkgesprächfetzen. „The Right Stuff“ ist dabei eine poetische Paraphrase und Parodie des gleichnamigen Testpiloten- und Spaceage-Romans von Tom Wolfe (später verfilmt und bekannt unter dem deutschen Titel Der Stoff, aus dem die Helden sind), in dem der ich-erzählende Pilot sich unumwunden als sexuell höchst attraktiven Vertreter eines neuen Übermenschentums begreift. Am Ende steht das Requiem „Catch A Falling Starfighter“, ein wiederum folkloristisch ausgestalteter, zynischer Poem zur Begräbnistrommel, der auf surreale, aber einsichtige Weise die weiteren Verwendungszwecke eines vom Himmel gefallenen Starfighters aufzählt und dazu rät, vorher das Cockpit mit den verbrannten Überresten des Piloten über dem Abfluss auszuleeren. So viel zu den Ambitionen des gravitationsverachtenden Übermenschen. 
Für den bösen „Widow Song“ hatte Calvert Nico (Velvet Underground) als Sängerin vorgesehen, aber die Kooperation kam nicht zustande. Der Song wurde gar nicht erst eingespielt, findet sich aber im Libretto. Publiziert wurde er erst 1985 auf dem Hawkwind-Sampler Friends and Relations Vol. 3 als zeitgemäß asketisches Synthie-Stück, gesungen von Calverts Frau Jill Riches.
Im Vergleich zu sonstiger britischer Deutschenverarsche zeichnet sich Captain Lockheed & The Starfighters durch ein gewisses Quentchen Stichhaltigkeit aus, sowie durch den lobenswerten Versuch, nicht bloß deutsche Zackigkeit und Tölpelhaftigkeit zu parodieren, sondern auch und vor allem die 'deutsche Seele'. Darüber hinaus ist das Album hervorragend recherchiert und im Hintergrund, wo sich die Effekte abspielen, phänomenal belebt.

Sonntag, 17. Juni 2012

Gut Frau!

Bezahle am Kiosk die zwei Kippenschachteln mit einem Fünfziger. Die kleine, stämmige Türkin nimmt ihn entgegen und sagt: „Oooh, schöönes Gääld! Liieebes Gääld! Gaanz neues Gääld. Nehm isch gern. Sonntagsgääld?“ Sag ich: „Ja, hat meine Frau mir eben zugesteckt.“ – „Oooh, hat Frau?“ – „Ja, damit ich auch mal nen schönen Sonntag habe.“ – „Oooh, gut Frau, gut Frau!“ – „Gell?“

Samstag, 16. Juni 2012

Witwenmacher

In der Wochenendbeilage des KStA findet sich eine ausführliche Reportage über das Nörvenich-Desaster vor 50 Jahren. Zur Feier der Indienststellung der F-104G, auch bekannt als Starfighter, sollte es damals auf besagtem Fliegerhorst zwischen Köln und Aachen zu einer spektakulären Flugvorführung mit dem neuen Gerät kommen. Bei der Generalprobe stürzten alle vier Flugzeuge der Formation ab. Keine Überlebenden. Aus der groß angelegten bundesrepublikanischen Wir-sind-wieder-wer-Jubelstunde wurde eine Trauerfeier. Die Affäre wurde danach recht schnell unter den Teppich gekehrt. Zu peinlich. 
Der Artikel im KStA geht einher mit der Aufforderung, eigene Erfahrungen mit dem inzwischen ja längst historisch gewordenen „Witwenmacher“ zu schildern. 
Also her mit der Schilderung. Ich mach's hier ein bisschen ausführlicher als in meiner Mail an den KStA. Am 25. September 1975 nämlich – wir waren in der dritten Klasse und hatten gerade Pause – stürzten etwa anderthalb Kilometer von der Grundschule entfernt, nahe Godendorf/Rheinland-Pfalz, vier italienische Starfighter ab. Es war der einzige derartige Starfighter-Kollektiv-Crash neben dem 1962 in Nörvenich und bedarf daher zwingend der Erwähnung. Die Italiener verfügten auch über die für die deutsche Luftwaffe modifizierte F-104G („G for Germany“). Sie kamen von einem Manöver über der Nordsee und absolvierten auf dem Rückweg nach Brescia eine Zwischenlandung auf der US Air Base Bitburg. Nach dem Start gen Italien wollten die vier offenbar noch ein paar Tiefflugformationen vorführen und dem Bitburger Radar ungesehen entfleuchen. Ungefähr so wie das Kind, das mit dem neuen Fahrrad stolz um die Verwandtschaft kurvt und ruft: „Guckt mal, ohne Hände!“ Jedenfalls übersah der Staffelführer dabei mal eben das Plateau oberhalb von Godendorf, diesseits der Sauer, dem Grenzfluss zu Luxemburg. Keine Überlebenden. 
Es herrschte eine Zeitlang heftiger Trubel in der Gegend. Am sowieso schon vollen Himmel der Region war an diesem Tag vor lauter Flugzeugen das Blau nicht mehr zu sehen. Hubschrauber flogen irgendwelches Lametta oder Bergungsgerät ein. Es gab aber auch die Ehr- und Trauerbekundungen aller nur denkbaren NATO-Luftstreitkräfte, von denen einige wohl ganz schöne Umwege flogen, um hierher zu gelangen. Die Piloten fingen schon über der Grundschule an mit ihrem obligatorischen Flügelwackeln, denn der Unglücksort lag ja gleich nebenan. Ob es tatsächlich menschliches Versagen war oder auf die technischen Unzulänglichkeiten der F-104G zurückging, blieb offen. Irgendwo im Internet spökt einer sogar über eine UFO-Begegnung als Grund für den mysteriösen Absturz. Aber eigentlich war er gar nicht so mysteriös: Einer fliegt vor, die anderen folgen. Der Vorflieger kracht aufs Plateau, und der Rest geht überschallschnell. 
Die Italiener flogen ihre anfälligen F-104s ziemlich genauso wie die Deutschen: viel zu tief für die europäischen Binnenland-Landschaften und wie die gesengten Säue. Wir sind die coolsten Hechte des Kalten Krieges, uns kann nichts passieren. Glück, dass diese speziellen Helden des Tiefflugs Godendorf verpassten, eine Stromleitung kappten und außer sich selbst offenbar nur noch ein paar Kühe in den Boden rammten. Im Untersuchungsbericht hieß es später, Ursache sei schlechtes Wetter gewesen. Ich erinnere mich an einen strahlenden Sonnentag mit tiefblauem Himmel. Na ja, das „schlechte Wetter“ mag morgendlicher Nebel aus dem Flusstal gewesen sein. 
Die Sache geriet schnell in Vergessenheit. „Dienstunfall“ eben. Ein Zeuge vom Räumtrupp der USAF, der später in einer Usenet-Liste im Internet den Absturz kurz zusammenfasste, hat nicht mal mehr den Fluss korrekt parat. Es war nicht das „Mosel valley“, sondern das „Sauer valley“. In einem Dorfporträt von Godendorf, das der SWR vor einiger Zeit anfertigte, wird der Absturz noch mal in Erinnerung gerufen, und es kommen Augenzeugen zu Wort.

Dienstag, 12. Juni 2012

King's Broad Arrow


Ich bin jetzt in der außerordentlich glücklichen Lage, verkünden zu können, dass ich über eine Uhr mit dem legendären „King’s Broad Arrow“ verfüge. Der King’s Broad Arrow ist das Zeichen über der Sechs (s. Foto). 
Er geht zurück auf ein heraldisches Symbol des Mittelalters und wurde ab dem späten 17. Jahrhundert von englischen Versorgungsstellen benutzt, um staatlichen Besitz zu kennzeichnen. Der Pfeil landete somit im 20. Jahrhundert auch auf His bzw. Her Majesty’s Wrist Watches, die zur militärischen Ausrüstung gehörten, der Militäruhr-Verordnung A-11 bzw. Mk11 entsprachen und perfekte Funktionalität garantierten. Für den Freund einfacher Understatement-Uhren jenseits allen Hipstertums und Nerdtums ist es erstrebenswert, mindestens ein Exemplar mit dem King’s Broad Arrow zu besitzen. Oder um die Worte des verblichenen Dichters zu variieren: Ein Leben ohne King’s Broad Arrow ist möglich, aber sinnlos. 
Bei der Uhr handelt es sich um eine Hommage. Es ist die limitierte „Mk III“ des Schweizerisch-britischen Herstellers MWC, meine erste Automatik überhaupt. Eingedunkeltes Gunmetal-Gehäuse, leicht gewölbtes Glas, charakterfestes Gangwerk, robuste Schraubkrone, lautlos gleitender Sekundenzeiger, hocheffektive Luminova und bescheidene Größe. Besser geht nicht.

Freitag, 8. Juni 2012

RIP

Wie es in den späten 60ern dazu kam, dass der freundliche Pastor Forse ausgerechnet in unserem kleinen Dörfchen landete, weiß ich auch nicht. Er war auch gar nicht der offizielle Pfarrer, sondern fungierte meistens sonntags als Aushilfe, während der Pfarrstelleninhaber die anderen Dörfer der Großgemeinde versorgte. Letzterer, der offizielle Pfarrer, war insgesamt eher unbeliebt, vor allem bei uns Kindern. Streng, mürrisch, humorlos, traditionell, sich seiner Autorität und herausgehobenen Stellung innerhalb der dörflichen Sozialstruktur sehr bewusst. Die älteren Leute sprachen von ihm selbstverständlich als von „dem Herrn“ (im Sinne von: der Chef / der Macker / der große Käse). Alte Schule, ziemlich viel leidenschaftsloses Geleier und strenge Blicke. Aber ich will den Mann nicht zu sehr abqualifizieren. Auch er hatte seine lichten Momente. 
Pastor Forse war jedoch ein prinzipiell anderer Typ. Er war Next Generation. Er kam aus der Stadt. Er war Religionslehrer an einem Gymnasium, Leiter eines Konvikts und katholischer Studentenpfarrer der noch neuen Universität. Später war er Gemeindepfarrer des Stadtteils, der die Universität beherbergte. Pastor Forse war selbst noch recht frisch, hatte viel mit jungen, engagierten Leuten zu tun, er hatte Gelegenheit gehabt, das Zweite Vatikanum zu rezipieren, war aber mitnichten ein introvertierter Theologe und Gelehrter, sondern ein Mann des Volkes. Pfarrer Forse war ausgesprochen nett, verständnisvoll und warmherzig, und wir Dorfknaben waren immer ganz begeistert, wenn wir bei ihm die Messe dienen durften statt bei dem anderen. Durch Pfarrer Forses Kontakte kamen ab und zu auch andere liberale Priester aus der großen Stadt zu uns, sanftmütige Männer, die Messdiener nicht nur als liturgische Manövriermasse begriffen und ihr eigenes Amt als „Dienst“ auffassten, nicht als Ausübung gottgegebener Autorität. 
Das war wichtig damals, man sollte es nicht unterschätzen. Es brachte einen frischen pädagogischen Wind von draußen rein, ließ einen Vertrauen fassen und ersetzte den Zwang durch Freiwilligkeit. Zumindest eine Zeitlang. Ich selbst entfernte mich dann doch irgendwann von der ganzen Materie – sie passte nicht mehr richtig zu dem, was im Leben so ablief –, denke aber mit großer Sympathie an Pastor Forse zurück. Der blieb eine Konstante und hat auch nach seiner Pensionierung noch regelmäßig im Dorf die Messe gelesen. 
Nun ist Pastor Forse, Mitte siebzig, krank geworden und gestorben. Möge er, wo auch immer, so freundlich empfangen werden, wie er uns einst begegnet ist.

Mittwoch, 6. Juni 2012

"Monstrous men and manlike monsters / Battle for the end of time / Meanwhile heavy metal songsters / Cut themselves another line"

Moorcock, Elric von Melniboné, Schwarzes Schwert. Ewiger Krieg, gewaltige Schlachten auf öden Ebenen, wimmelnde Ungeheuer, tragischer Held mit seelenfressender Dämonenklinge, Kriegsdrachen, dekadente Zivilisationen, Höllenfürsten noch und nöcher. Das zog stets die Schwermetaller an, weniger die Klimperbarden und Zwitscherelfchen. Allerhand Pathos- und Grunz-Metallisten haben sich des populären Fantasy-Stoffs angenommen. Der Sänger der italienischen Band Domine etwa hört sich auf der eigenen Elric-Verwurstung des Öfteren so an, als würden die anderen Bandmitglieder ihm gerade die Zehen aufs Studioparkett nageln. Also, ich hasse so etwas. Und der Rest der Musik ist auch nicht sooo berauschend. Die Habichte hingegen, die alten zotteligen Overlords des Fantasy-induzierten Powerrocks und -gezisches, sind mit dem Material seit jeher verwachsen gewesen. Michael Moorcock hat sie schon in den frühesten Siebzigern in seinen Büchern auftreten lassen. Und natürlich ist er Mitte der Achtziger bei diesem musikalischen Gefechtsmarsch durch seinen literarischen Kosmos selbst mit auf der Bühne. 
Live Chronicles verwertet das Chronicle of the Black Sword-Studiomaterial aus dem Jahr 1985 als Live-Doppel-Album und bildet die aufwendige UK-Tour dieses Jahres ab. Es werden selbstverständlich die Stücke des Studioalbums geboten, härter und dynamischer ausgeführt, zusätzlich werden ältere Klassiker geschmeidig in das Moorcock-Multiversum integriert, außerdem tauchen Songs auf, die nicht auf der Platte zu finden waren und hier ihre erste (und einzige) Aufführung erfahren. Die beiden von Huw Lloyd-Langton fabrizierten Stücke „Moonglum“ und „Dreaming City“ sind Highlights des Hawkwind-Repertoires und hätten zwingend auf das Kernalbum gemusst. So existieren beide Songs nur in den hier auf Live Chronicles erhältlichen Bühnenversionen. 
In der ersten Publikation der Doppel-LP beim Label GWR (1986) fehlten einige Passagen, in denen Michael Moorcock als Conferencier der Hölle auftritt und heroische Elric-Gedichte in die Konzerthalle schleudert. Es gab da offenbar ein Urheberrechtsproblem, weswegen Moorcock seine Beiträge herausschneiden ließ. Auf einer späteren amerikanischen CD-Auswertung des Albums (mit abweichendem Cover) sind diese Passagen wieder eingefügt. Ihre definitive Gestalt fand die Fantasy-Rock-Platte allerdings erst 2009 in der Version von Cherry Red Records. Man hört einfach im tiefen Raum mehr brodelndes Zeug auf dieser Remastered-Ausgabe, zudem weist das CD-Heft die Coulthart-Illustrationen auf, die damals das Programmheft und die Maxi-Singles zierten.   
Bereits 1986 erschien ebenso ein VHS-Videomitschnitt der Black Sword-Tour. Weniger Spielzeit als das Doppelalbum, dafür aber mit den Moorcock-Passagen. Der Mitschnitt wurde später auch als DVD ausgewertet. Ich selbst bevorzuge allerdings die reine Audio-Aufnahme. Das manchmal unfreiwillig komische Fantasy-Gewusel auf der Bühne lenkt von Song und Sound ab. Genauso wie die ‚avantgardistische’ Schnittechnik und die Videoeffekte aus der Kinderstube der Videoeffekte. Die Band wollte ihre Vertonung des Moorcock-Stoffs als große Heavy-Metal-Bühnenshow aufziehen, aber das Budget war kleiner als die Ambitionen, weswegen dieser Fantasy-Papp-Trash gewisse Spinal Tap-Assoziationen weckt. Sieht aus wie eine Ansammlung von LARP-Gestalten, die sich Musikinstrumente umgehängt haben und mit Gummischwertern herumfuchteln. Andererseits: Wird anderswo aus so etwas nicht Kult geboren? 
Egal, der Sound dieser Tour ist phänomenal und brachial. Hawkwind verschaltet sich seit 1975 erstmals wieder direkt mit Moorcocks Ewigem Helden und legt sich mächtig in die Riemen. Sogar das stupide Kirmesschlagzeug der damaligen Jahre fällt in diesem wogenden Soundgewitter kaum negativ auf, sondern wird zum Donnerhall. Nein, es ist kein zweites Space Ritual geworden, aber es befindet sich auf Dreiviertel des Weges dahin. Der Elric-Kosmos wird viel umfassender dargestellt als auf dem vorangegangenen Studioalbum: mehr Spoken Word, mehr Hysterie, mehr Starkstrom, Pathos und Theaterdonner. Und mehr dämonisch dräuender Pulp. Die Stücke verschränken sich zu einer individualistischen Fantasy-Rock-Oper, die mal wieder keinem Musikgenre eindeutig zuzuordnen ist. Da ist natürlich ein ganz starker metallischer Anschlag drin, aber zwischendurch wulsten sich die Synthie-Beats aus und produzieren Trance und Industrial, bevor es Trance und Industrial gab, und wird rezitiert und verträumt geschwebt, bis man sich tatsächlich im Märchenreich wähnt. Diese Phase ist sehr song- und melodieorientiert, weswegen es kaum ein anderes HW-Live-Album gibt, auf dem so viel komplett durchgestyltes, nach vorne rockendes Liedgut zu hören ist. Von der beinahe apokalyptisch zu nennenden Live-Version von „Choose Your Masks“ über das tragisch-schöne „Zarozinia“ bis zur bis dato brachialsten Version von „Angels of Death“. Bemerkenswert ist, dass auf damals schon übliche Heroic-Metal-Standards à la Manowar nahezu völlig verzichtet wird. Und aus heutiger Perspektive erscheint es sehr wohltuend, dass es auch keine Spur dieses pseudo-folkloristischen Mittelalter-Metal-Gothic-Gekröses gibt, das neuerdings gerne mit „Fantasy“ assoziiert wird. Nein, Fantasy ist hier eine einzige Oszillation aus stetem Brummen, Blähen, Blubbern, Sirren, Rauschen und Murmeln, ein höllisches Stakkato inklusive Gewittersturm, Schlachtenlärm, elektronischer Meeresbrandung, glockenhellen Gitarrenläufen, Chaosstimmen, apokalyptischem Lärm und völlig skrupelloser Lyrik, in der Pulp und Expressionismus verheiratet werden. 
Die Platte profitiert enorm vom unwahrscheinlichen Talent Huw Lloyd-Langtons, der als Songwriter, als Sänger, vor allem aber als Lead-Gitarrist ständig hochkonzentriert auf der Szene ist und dessen Instrument gleißt wie selten zuvor. Mag sein, dass er es manchmal übertreibt, vor allem dann, wenn er ältere Stücke aus den 70ern, an denen er damals gar nicht beteiligt war, mit Lead-Gitarre quasi ‚überschreibt’. Aber allein die Vielfältigkeit dieser Gitarre ist das ganze Album schon wert. Und da sind natürlich auch noch Harvey Bainbridges Synthie- und Sequencer-Wellen, Dave Brocks sägende Rhythmusgitarre, Alan Daveys melodische Bassläufe, Danny Thompsons Dampframmen-Schlagzeug und Moorcocks Poetry Slams aus dem Märchenreich des Ewigbösen. 
Ja, die Bühnenshow mag ein bisschen pappig gewesen sein, aber musikalisch ist es die definitive Aufarbeitung der Saga vom Schwarzen Schwert. Die Geschichte von Elric – lord of ruins, albino prince of ruins who killed the only two mortal women he ever loved – wird zum LSD-Metal. Phantastisch.

Montag, 4. Juni 2012

Jubilee

Ich wurde mithilfe einer LKW-Ladung original britischer Ausstattung überredet, dem „Queen’s Jubilee“ am Empfangsgerät beizuwohnen. Dreieinhalb Stunden! Ausgestattet war der Haushalt mit Walkers Salt & Vinegar-Chips (100% British potatoes), Kettle Chips (Sea Salt with crushed black peppercorns), zwei Sorten Walkers-Shortbread, diversen Cadbury-Riegeln, einer Cadbury-Tafel, englischer Lakritze (Candyland), einem Union Jack, einem schottischen Wappenbanner sowie einer cymrischen Flagge. Sowie einer Jubilee-Tasse und natürlich auch einem Bottich voller Tee, aber ich mag keinen Tee.
Während die Bötchen hübsch zivilgesellschaftlich und volksfestartig im Regen die Themse runterschipperten und sich Rolf Seelmann-Engerling, der adlige „Maritimexperte“ sowie die obligatorische Klatsch-Trulle einen mehr oder weniger distinguierten Wolf laberten (dreieinhalb Stunden!), vermisste ich irgendwie doch den Glanz alter Zeiten. Siebenhunderttausend Salutschüsse, schwere Kriegsmarine, phallische Truppenparaden, knochentrockene, schnurrbärtige Offiziere mit Gesichtern wie Granitmassive, hutzelige, bucklige Premierminister mit Melone. Es wurde behauptet, alle Windsor-Herren trügen dem Anlass gemäß Marineuniformen. Ich rief: „Nee, William trägt eine Luftwaffenuniform! Ich kenne die aus Luftschlacht um England!“ Stunden später erwähnte eine von den Koryphäen, dass William ja eigentlich eine Luftwaffenuniform trüge. „Siehste!“ 
Derweil machte ich mir Gedanken über das Amt des „Bargemasters“, das Rolf Seelmann-Ententanz uns kurz erklärt. Ist das eine Festanstellung, verbeamtet womöglich, oder eine Honorartätigkeit? Der Master steht da einfach dekorativ auf der Barke rum, vermutlich macht er das zweimal im Jahr, wenn die Queen offiziell irgendwohin übersetzt. Kriegt er dafür 3500,- Pfund Monatsgehalt, oder wird er nach Dauer der Überfahrt bezahlt? Vielleicht mit Gefahrenzulage, weil er ziemlich am Rand steht, und Erschwerniszulage, weil das Outfit reichlich massig wirkt? Oder leitet er eventuell sogar eine Behörde mit 1500 Mitarbeitern, die Königliche Barkenmeisterei, die zweimal im Jahr alle königlichen Barken auf Dichtigkeit überprüft? Man weiß es nicht. 
Am Dienstag geht’s weiter mit dem Dankgottesdienst und dem – laut Rolf Seelmann-Endgewinn – absoluten Höhepunkt: Die Queen zeigt sich auf dem Balkon! Links am Rand, nahe am Geländer, steht dann vermutlich in vollem Ornat der Balconymaster, dessen Behörde, die Königliche Balkonmeisterei, zweimal im Jahr auf allen königlichen Balkonen das Unkraut aus den Ritzen knibbelt und sie hinsichtlich der Statik überprüft.