Samstag, 29. Juni 2013

Songs From The Wood und Heavy Horses

Kein anderes Tull-Album schlenkert und hämmert sich gleich beim ersten Mal so ins Herz wie Songs From The Wood. Man muss diese Platte einfach lieb haben. 
Die Rückbeziehung auf die „gute alte Zeit“, dieser historisierende, anti-moderne, warmherzige Habitus, ist eine Illusion und im Sinne eines traditionellen Folkrock genauso authentisch wie das Cover, das mitnichten in der freien Natur aufgenommen wurde, sondern in einer Studiokulisse. Songs From The Wood ist Naturburschen-Design, ein ungeheures Spaßalbum. Post-Hippie und verbindlicher als diese, zugleich Prä-Grüne und viel, viel ironischer – sofern Grüne überhaupt jemals ironisch waren.
Die Botschaft von pastoraler Schönheit und Virilität ist viel zu stark und over the top, als dass sie nicht semi-satirisch gemeint sein könnte, die Musik viel zu ausgefuchst, als dass das „Volksmusik“ sein könnte. Was wirkt wie locker aus dem Ärmel geschüttelt und ständig „Einfachheit!“ und „Unmittelbarkeit!“ ruft, erweist sich beim zweiten Hören als imponierend komplexes Tun, als abenteuerliche Konstruktion aus ästhetischen Bausteinen und Klangfarben. Volkslied, Kunstlied, Renaissance, Jazz, Blues, Hardrock, Psychedelia, Pop, Kirchenlied – eine simulierte Symphonie ruraler Ausgelassenheit, die extrem diszipliniert hergestellt wurde. Was da alles mit- und nebeneinander spielt, versetzt oder auch schon mal gegeneinander, und sich verschränkt zum großen Ganzen, das fordert totale Herrschaft über Material und Instrumentarium. Eine Allgegenwart von Virtuosität: schnelle und schnellste Flöten-, Mandolinen und Gitarrenläufe über Barriemore Barlows saukomplizierten Drum-Mustern, schwerer, funkiger Bass, nahtlose Übergänge, alles perfekt aufeinander abgestimmt, jeder Hall an der richtigen Stelle, jede Synkope sitzt, tausend kleine Effektblüten öffnen sich am Wegesrand. 
Die berauschende Inszenierung einer Illusion, die Erweckung einer Traum- und Märchenwelt des Vergangenen und nie Gewesenen.

Glücklicherweise war das Füllhorn danach noch nicht leer. Es folgte im Jahr darauf Heavy Horses mit dem überragenden Titelstück, das einem der ältesten (und am meisten missbrauchten) Freunde des Menschen seine Referenz erweist: Der Ackergaul als Symbol vergangener Zeiten, jahrhundertelang unentbehrlich und ein Garant nicht nur fürs Überleben, sondern für Wohlstand. Das Tier als stolzes, gelassenes, stoisches, friedfertiges Geschöpf – und kaum jemals so unerhört poetisch gefasst wie in diesem Stück, das vom trabend Hymnischen ständig in einen wilden Galopp fallen will. 
Songs From The Wood ist ein mythisches Wald-und-Hecken-Album, auf Heavy Horses geht es mehr um Äcker, Pflüge, Wiesen, Feldwege und heimlichen Sex im Freien. Songs From The Wood ist wild, Heavy Horses domestiziert. Es ist eine Kulturlandschaft-und-Agrarökonomie-Platte, allerdings durchdrungen von einer Melancholie, die insgeheim die Zähmung der Wildnis bedauert. Während Ian Anderson im Kontext von Songs From The Wood ein schräges Waldschrat-Image pflegte, den „Jack-in-the-Green“, verwandelt er sich bei Heavy Horses in einen bizarren Gutsherrn. Das Bandfoto auf dem Backcover ist eines der witzigsten der Tull-Historie. 
Auf der Platte hört man mehr Streichquartett als vordem, aber auch heftigere Powerrock-Kanonaden („No Lullaby“), die bereits auf das kommende Album Stormwatch hinweisen. Neben solchen „progressiv“ verkomplizierten Tracks versammelt die Band kleine, lebendige, bis in die letzte Note gestriegelte Folkrock-Songs, bei deren robuster Feingliedrigkeit einem die Kinnlade runterklappt. „Acres Wild“, „Moths“, „Rover“ und „Weathercock“ bildeten, zumindest für die Siebziger, den Endzustand des Folkrock ab. Besser und ironischer konnte die Gattung nicht werden.
Heavy Horses ist die definitive Parodie, aber eine ohne Zynismus, sondern mit Respekt und Achtung vor der „guten alten Zeit“ und den Lebensleistungen von Mensch und Tier.

Freitag, 28. Juni 2013

Bye-bye Adidas

Ich weiß gar nicht mehr, wann ich mir diese Adidas-Schuhe gekauft habe. Kommt mir vor wie ein Vierteljahrhundert. Sie waren überall hin mit, haben alles gesehen, hinterließen Spuren in allen möglichen Böden, waren Teil des Daseins und fügten sich klaglos ein. Man konnte sie bei jeder Witterung tragen: leicht genug für den Sommer, warm genug für den Herbst, dicht bei Regen und sogar bei Schnee. Sie waren schwarz mit weißen Streifen und weißer Ferse. Keine schmalen Sneakers, sondern robust, dabei jedoch sehr leicht und formschön und keinesfalls klobig. Und komplett stinkefrei, also vermutlich atmungsaktiv. Der Name und die Typenbezeichnung waren verblasst, ließen sich nicht mehr lesen. Offenbar gehörten sie jedoch zur Edition „Strength“, und natürlich sind sie beim Hersteller längst ersetzt worden durch hippere Öko-Modelle oder modische Albernheiten. 
Sicher, sie waren ein bisschen arg abgelaufen und keuchten auch ein wenig bei schnellerem Schritt. Aber ich hielt ihnen die Treue. Sie müffelten auch nach all den Jahren noch nicht. Heute Morgen beim Einkaufen brach jedoch die Sohle des rechten Schuhs komplett auseinander. Sie zerbröselte nicht, löste sich nicht vollends auf, und ich schaffte es problemlos bis nach Hause. Aber es hat definitiv keinen Sinn mehr: Sie waren durch und mussten in die Tonne. Ich kehre gerade von diesem ihrem letzten Gang zurück und bin nun etwas melancholisch. 

Sonntag, 23. Juni 2013

The Broadsword and the Beast

Was habe ich diese Platte damals, im Jahr ihres Erscheinens, geliebt! Ich stelle fest, ich tue das immer noch. The Broadsword and the Beast ist ein Meisterwerk, umso mehr im Kontext der flankierenden Alben und deren damaliger Rezeption. 
Nachdem Ian Anderson für die Modernität von A (zu Unrecht) Prügel bezogen hatte, machte er den Kritikern 1982 eine lange Nase. Er kehrte zurück zum beliebten historisierenden Modus, behielt die Elektronik aber nicht nur bei, sondern baute sie sogar aus. Ihm zur Seite stand dabei der neue Keyboarder Peter-John Vettesse, der noch stärker an Synthies interessiert war als ehedem Eddie Jobson auf A
The Broadsword and the Beast reaktiviert jedoch weniger den „Olde England“-Charme der Folkrock-Phase, sondern artikuliert sich „nordisch“, mit Edda-Poetologie und Wikinger-Ästhetik. Hier kommt ein selbstreflexives, ironisch-düsteres Fantasy-Album daher, dessen Hauptaugenmerk auf dem Phänomen des Eskapismus liegt: Weltflucht in die Mythophilie angesichts der Bedrohungslage der Epoche. Die Atmosphäre hat Ähnlichkeiten mit Stormwatch; es ist ein Blick in die Weite, und sei es auch nur die der eigenen Sehnsüchte. Das Album ist wiederum Storytelling, eine Art akustischer Gegenwartsroman aus den frühen Achtzigern. Diese Sound-Landschaften wollen durchwandert werden. Ich träumte damals von der Platte und der Zwischenwelt, die sie generiert. Und als ich morgens aufwachte, kam ich mir vor wie ein Abenteurer. Nein, ich benötigte keine Computerspiele und ähnlichen Pipifax, ich hatte The Broadsword and the Beast
Eigentlich sind weder die beiden Fantasy-Titelstücke „Beastie“ und „Broadsword“ die emotionalen Zentren der Platte, sondern das wunderbare „Pussy Willow“, die Geschichte der graumausigen Sekretärin, die sich in romantische, präraffaelitische Ritterwelten beamt. Vollkommen zeitlos. Und der unverschämt melancholische Ausklang „Cheerio“ sorgt dafür, dass man die Platte sofort noch mal auflegt, um diese artifizielle Welt nachhaltiger zu studieren. 
The Broadsword and the Beast rockt mächtig daher, setzt auf schwere Riffs, schwebende Synths, pochende Sequencer, straighte Drums und wird großartig ausbaldowert zwischen lieblichem Flöten- und Mandolinen-Folk, Martin Barres vielgestaltiger Gitarre, effektsicher herumzuckender Kalter-Krieg-Modernität und Fantasy-Kulissenschieberei. Und die Platte enthält das beste Songwriting der Achtziger-Tull nach A.

A

Für mich als Zögling des Kalten Krieges und Freund seines rockkulturellen Outputs ist dieses Album immer noch erste Wahl. Manche Zeitgenossen haben die Platte und die Synthetisierung Jethro Tulls damals nicht recht begriffen. Es scheint fast so, als hätten sie sich mit dem Folkrock, der auf den schrulligen Progressive Hardrock folgte, allzu sehr abgefunden und seien nicht vorbereitet gewesen auf den weiteren Stilwechsel, der bündig mit dem Jahr 1980 daherkam. 
Nach dem frühen Tod von Bassist John Glascock zerfiel die fruchtbare, virtuose Tull-Besetzung der Folkrock-Jahre. Ian Anderson plante erst ein Solo-Album, streckte die Fühler in Richtung der avantgardistisch aufgelegten ProgRock-Legende Eddie Jobson aus und engagierte ihn für Keyboards und Geige. Dann wurde doch ein Tull-Projekt daraus, und Anderson musste sich weitere neue Leute suchen. Er fand den noch ziemlich unbeleckten amerikanischen Drummer Mark Craney sowie den Folkrock-Bassisten David Pegg. Und dann verband der Maestro das alles noch mit einer Aktualisierung des Sounds. 
Die Platte ist eine drastische Abkehr von der Ironie und der Melancholie des Pastoralen, das die Jahre zuvor prägte. Unter dem alarmrot glühenden Cover von A geht es um Atomkriegsgefahr, um „Fail Safe“, Zivilschutz, hereinfliegende Missiles, aber auch um Technisierung, Automatisierung, Arbeitswelt, kurzum: um die poetische Durchdringung des Hier und Jetzt. Und da im Hier und Jetzt gerade die Synthies den Ton angaben, hielten sie auch in Ian Andersons Welt Einzug: Er fand, sie konnten seine Botschaften angemessen ausdrücken. Die Sache wird also schlanker, poppiger, schwirrender, funkiger und zeitgemäßer, das Attribut „wavig“ wäre wohl zu viel verlangt. Hardrock-Riffs, Flöten-, Gitarren- und E-Piano-Läufe werden versehen mit Synthie-Tupfern, elektronischen Fanfaren und kalter, präziser Modernität. 
Mitnichten verzichtet A jedoch auf den Folk. „Fylingdale Flyer“, der absolut begnadete Übersong dieses Albums, ist im Grunde seines Wesens ein harter Folkrocker. Hörpflicht! Das superschnelle Instrumentalstück „The Pine Marten’s Jig“ weist im Titel schon auf die volksmusikalische Ambition hin. Starkes keltisches Flirren zeichnet „Protect and Survive“ aus, und selbstverständlich kann auch das monumentale „Black Sunday“ nicht lassen vom Keltizismus. Am neumodischsten hört sich die Kombination von Folk mit Elektro aber auf dem hibbeligen „Batteries Not Included“ an. Auf „Uniforms“ greift Eddie Jobson dann endlich auch mal zur Geige, tritt in Konkurrenz zu Andersons Flöte und schafft ein instrumentales Highlight der Tull-Historie. Und auf „The Pine Marten’s Jig“ wird’s dann richtig rasant mit den beiden. 
Ebenso bleibt natürlich der konzertane Charakter: Die Songs wurden nicht wirklich entschlackt im Sinne einer Wave-Rock-Ästhetik, sondern sind komplizierte, durchkomponierte Dinger mit einnehmender Dramaturgie, deren oberflächliche Eingängigkeit einlädt, in die Tiefe zu horchen. Und mit Tastenmann Jobson hat Anderson sich einen erstklassigen Sparrings-Partner engagiert, den besten Keyboarder nämlich, der je bei Jethro Tull spielte. 
Tatsächlich ist A wohl das modernste Folkrock-Album, das damals verfügbar war. Die Reaktionen des Publikums zeigen, wie neuartig das um 1980 herum gewesen sein muss.

Freitag, 21. Juni 2013

Stormwatch

Mein Lieblings-Tull-Album, eindeutig. Vielleicht wegen der düsteren, bedrückt-melancholischen Stimmung, ganz sicher jedoch wegen der herausragenden magisch-realistischen Lyrik und der Deckungsgleichheit von Form und Inhalt. Man sollte wesensmäßig ein bisschen neben dem rationalen Gleis fahren, um zu diesem Rock-Album zu finden. 
Zuvor präsentierten Ian Anderson und Co. uns die lebensfrohen Folk-Rock-Alben Songs from the Wood und Heavy Horses mit ihrem Lobpreis der Agrarkultur und ihrer Protagonisten, der Landleute. Kent- oder East-Sussex-Alben, Designer-Folkrock auf allerhöchstem Niveau. Sie machten Spaß, weil sie ironisch und sonnig und geschmeidig waren. 
Stormwatch von 1979 schlägt nach wie vor in diese folkloristische Kerbe, verlagert sein Interesse aber weit nach Norden, an die harschen, windigen Nordatlantik-Landstriche, wo die Menhire stehen, die Winde wehen, Wolkenbänke dräuen, am Horizont die Lichter der Ölplattformen blinken und vorgeben, mythischen Verheißungen des Sieges über die Natur zu sein. Aber die Natur schert es kaum, und sie reduziert sie zu Synkopen in ihrem „concert of kings“. Wie macht man sich einen Landstrich untertan, der sich gegen die Anwesenheit der Modernität wehrt? Denn ringsherum herrschen nichts als Landschaft und Entgrenzung und wabern alte Nebelgeister durch die Steinkreise. Und die Menschen starren aufs tobende Element und denken an jene, die draußen geblieben und eins mit ihm geworden sind. 
Dargeboten wird diese Stimmungslage, dieser magisch-realistische Nordatlantik-Roman in Fragmenten, mit perfekter Tull-Inszenierung und jener Virtuosität, die in punkto Songwriting und instrumentaler Könnerschaft alles gibt. Und Anderson lässt den Sound zurückschnippen in Richtung 1975, macht das Hardrock-Fass wieder auf und gönnt Martin Barre ruppige Gitarrenriffs, John Glascock einen anmutigen, beweglichen Bass und Barriemore Barlow schwere Drums. 
Der Favorit auf diesem Album wird immer „Orion“ sein, Rockmusik-Mystizismus mit großer Lyrik. Beherrscht heute keiner mehr. „Dark Ages“ gerät derweil – nomen est omen – zu einem der härtesten und dunkelsten Tull-Stücke überhaupt, und „Something’s on the Move“ kommt mächtig elektrisch dahergepoltert. Dazwischen der wunderbare, psychedelisch angehauchte Designer-Mystizismus von „Old Ghosts“ und „Dun Ringill“ sowie das folkloristische Instrumentalstück „Warm Sporran“. Die zornige Traurigkeit von „Flying Dutchman“ ist unübertrefflich, und hier erreicht dann auch der mystische Zeitkommentar seine perfekte Ausprägung: Die Platte wird endgültig zur Schauergeschichte. Danach kann es dann nur noch die wortlose, instrumentale „Elegy“ geben. 
(Die danach folgenden Stücke jüngerer Stormwatch-Ausgaben sind nachträglich hinzugefügte Bonus-Tracks, teils exzellent und stimmungsmäßig zum Album passend, allerdings verlängern sie den erzählerischen Bogen ungebührlich.)

Dienstag, 11. Juni 2013

Iain Banks

Iain Banks ist mit 59 Jahren gestorben. Es dauerte nur zwei Monate von der Nachricht seiner Krebserkrankung bis zum Tod. In Deutschland gibt es Nachrufe von Spiegel, Stern und anderen, obwohl sich zu Lebzeiten kaum einer von denen jemals für den Autor interessierte. Der war doch, brrr, Science Fiction. Jetzt, da Nachrufe die britische Presse fluten und von einem der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller nach 1945 sprechen, kommen sie offenbar auch langsam auf den Trichter. 
Für mich persönlich ist Banks der favorisierte Autor einer vergangenen Lebensphase, derjenigen Epoche vor der Aufnahme professioneller Tätigkeiten in der Buchbranche. Sowie jener ersten umtriebigen Jahre als Professioneller. Der erste in Deutschland erschienene Roman war 1989 Bedenke Phlebas / Consider Phlebas, und es war eine Space Opera, die mich als reiner, unbefleckter Leser – wie junge Leute heute wohl sagen würden – buchstäblich „flashte“: Ich sah danach nur noch Blitze. Krachledern, robust, größenwahnsinnig und dennoch eigenartig fein, reflexiv und hinterfotzig. Literatur! Neue Banks-Romane bei Heyne wurden fortan zu Ereignissen (Favorit: Barfuß über Glas / Walking on Glass), und Sky Nonhoff machte sich Mitte der Neunziger bei Goldmann darum verdient, auch die Gegenwartsromane auf uns loszulassen und sie zudem noch mit coolen Nachworten auszustatten. (Favorit natürlich: Verschworen / Complicity). Ich behaupte, dass Banks damals eine Generation von loyalen Heyne-SF-Jüngelchen in die Feinheiten literarischen Schaffens einwies und nicht wenige aufs Angenehmste irritierte und irgendwie an seinen Texten, ja, reifen ließ. Denn in Wirklichkeit waren natürlich auch seine SF-Romane britische Gegenwartsliteratur voller brisanter aktueller Inhalte, nur eben eigenwillig verkleidet. 
Ich habe damals auch einige Banks-Einträge für den Werkführer der utopisch-phantastischen Literatur verfasst. Keine Ahnung, was ich da alles verzapft habe, müsste ich jetzt nachschauen. Vermutlich ist das alles viel zu enthusiastisch. Aber so war das damals: Feuer und Flamme. 
Irgendwann wurde ich dann von Heyne dazu auserkoren, die jeweils neuen Banks-SF-Manuskripte testzulesen und zu begutachten. Es war ziemlich egal, was ich dazu schrieb, der Ankauf war ohnehin beschlossene Sache. Mit zunehmender Professionalisierung ging der Zauber allerdings ein wenig verloren. Banks war inzwischen ein Promi unter vielen, und die Romane wurden umfangreicher, exzentrischer und inmitten einer Umbruchphase des Genres gewöhnlicher, obwohl sie natürlich – allein wegen der Strahlkraft des Namens – nie Routine wurden, sondern Ereignisse blieben. 
Nun ist die Ereigniskette ein für allemal abgerissen, und ich denke durchaus wehmütig an diese frühen gemeinsamen Jahre, die Banks’ erste, blau gestaltete Heyne-Auflagen und ich miteinander im Zwiegespräch verbrachten – und an Nonhoffs coole Goldmann-Nachworte. 
Machen Sie’s gut, Mr. Banks. Ein wesentlicher Teil von Ihnen bleibt sowieso hier.

Montag, 10. Juni 2013

Wohlstandsgesellschaft

Stromausfall im gesamten Haus. Alles rennt aufgescheucht herum, rauft sich das Haupthaar und zerreißt sich gramvoll die Gewänder. Leute leuchten mit Taschenlampen in Sicherungskästen und flüstern: „Hauptschalter! Hauptschalter!“ Manche plappern schnell und panisch vor sich hin, von oben erklingen ängstliche Rufe und ungläubige Flüche, Türeschlagen, Füßetrappeln. „Gott hat uns verlassen!“, ruft Frau R. und schließt sich im Bad ein. Leute mit Handys werden im Flur gesichtet, die Gesichter fahl beleuchtet von den Displays, blankes Entsetzen im Blick. Jemand läuft an mir vorbei nach draußen, einen Rollkoffer hinter sich herziehend und Blut an den Lippen, und schreit: „Energiewende!“ Ein anderer ist ganz schwarz im Gesicht, trägt Helm und Grubenlampe und ruft: „Ich wusste es!“ Einige andere Mieter versammeln sich vor dem Haus und blicken in den bedeckten Himmel, als gäbe es dort Antworten zu lesen. „Aha, deswegen also“, sagt die junge Frau aus dem Tiefparterre fatalistisch. Dann kniet sie nieder und betet zum Himmel: „Vergib mir, Herr, ich bin nicht würdig.“ Ich folge ihrem Blick, kann aber nichts erkennen außer einer geschlossenen Wolkendecke. Erste Geißlerzüge formieren sich auf der Straße, Gesänge werden angestimmt. Offenbar ist nicht nur unser Haus betroffen. Ein dicker Politiker wird vorgefahren und beschwichtigt. 
Ich, der ich ja eigentlich gerade an der Arbeit sitze, beschließe, in die Wohnung zurückzukehren und sie vorerst zu verrammeln. Sollte der Strom nicht wieder da sein, wenn der Akku des Laptop leer ist, werde ich mich mit den Nordic-Walking-Stöcken meiner Frau gottgefällig züchtigen. 
Aber es ist mal wieder alles total unnötig: Nach einer halben Stunde summen die Leitungen erneut ihr elektrisches Lied, und die Wohlstandsgesellschaft ist wieder intakt. Die Straßenreinigung ist auch schon da, um das Blut der Geißler wegzuspritzen.

Mittwoch, 5. Juni 2013

Die Technokraten

Rush haben damals dabei mitgeholfen, dass ich den Kalten Krieg ideologisch halbwegs unangetatscht überlebt habe. Ihre Platten brachten Weltbürgertum-Feeling auch in die Provinz und zu desorientierten Bartflaumträgern. Die Dinge wurden distanziert, aber nicht eskapistisch, von oben betrachtet und mit Humanismus alter Schule garniert, statt sich im Gesuhle ideologischer Grabenkämpfe zu verlieren. Da ist etwas Dankbarkeit angebracht. Die Beziehung heute ist allerdings eher eine ambivalente, wie bei vielen der alten Recken, die nach wie vor aktiv sind. Deutschland-Konzerte von Rush sind selten, wir waren 1988 auf einem in Frankfurt, aber hinfahren würde ich da heute eigentlich nicht mehr. Wenn die Band aber sozusagen in Sichtweite und fast fußläufiger Entfernung spielt, dann ist das Schicksal. Etwas juckt da noch, etwas verlangt, dass ich meine Dankbarkeit für damals zum Ausdruck bringe. 
Aus allen Regionen Deutschlands kommen sie an, die Fans. Aus Benelux natürlich auch, aus Großbritannien, man hört sogar Schweizer. Jeder zweite trägt ein einschlägiges T-Shirt. Viele Nerd-Häschen darunter, gesetzte Herren, ein paar Hardrocker und prollige Holländer. Und mehr Frauen, als die hippen Pop-Spötter der Gazetten, die solche angeblich geschlechtsspezifischen Dinosaurier-Bands verachten, es wahrhaben möchten. Die Arena ist nicht ausverkauft, aber gut gefüllt. Wir haben einen Sitzplatz, für mich das erste Mal überhaupt. Ganz schön anstrengend und ein bisschen einengend, dieses Sitzen. Aber da die Sache mehr als drei Stunden dauert – mit satt zweieinhalb Stunden reiner Spielzeit –, war das wohl eine gute Entscheidung. Wir weichen ohnehin nach ein paar Songs in eine völlig leere Reihe nach hinten aus, weil der Typ vor uns seinem dicken Kumpel unablässig Weisheiten ins Ohr brüllt und dabei lauter ist als die Musik. Armer dicker Kumpel. 
Die Show ist eines der aufwendigsten Konzerte, das ich je gesehen habe. Ohne hypersmarte Computerprogramme geht da nix mehr. Das ist auch mein Kritikpunkt seit jeher: Technokratismus statt Spontaneität. Aber Rush verstehen sich nun mal als Multimedia-Band, die nicht einfach nur Stücke spielt und sich durch eine schicke Lightshow illuminieren lässt, sondern alles visuell kommentieren muss durch exzessiven Kameraeinsatz, raffinierte Animationsfilme und Pyrotechnik: das Bühnengeschehen, die Songinhalte, das Publikum. Rush sind Geschichtenerzähler per se, und so etwas muss durchorganisiert sein. Wir sind hier schließlich nicht beim Poetry Slam. Allein das Computerprogramm, das das Live-Geschehen schneidet, in Schnipseln auf die Videoleinwand wirft und dafür immer neue Effekte und Steampunk-Rahmungen findet, dürfte sündhaft teuer gewesen sein. Die Technik erschlägt dabei allerdings nicht die Musik, denn dafür sind die Kanadier einfach zu virtuos und stehen zu sehr im Zentrum allen Geschehens, sind sie zu sehr die Stars des Abends – eine Fan-Hingabe, der sich die drei allzeit bewusst sind und die schon früh eine sympathische Seite von Rush hervorgebracht hat: die ans Absurde grenzende Selbstironie, die für einige Lacher gut ist. 
In der ersten Hälfte spielt die Band eine ganze Latte älterer Stücke, erstaunlich viele aus den Mittachtzigern („Force Ten“, „Grand Designs“, „The Big Money“). In der zweiten Hälfte wird es mit dem Vorstellen des aktuellen Albums Clockwork Angels so richtig aufwendig, die paar Tausend in der Arena verharren aber eher im Zuhörermodus und wirken in sich gekehrt. Die neuen Stücke sind musikalisch ganz weit vorne, aber im Sinne eines symphonischen NuMetal ziemlich sperrig und schwer. Nach hinten raus, wenn das Steampunk-Bühnenbild wieder zurückgefahren wird und die Klassiker-Songs folgen, geben Rush eine dermaßen heftige Hardrock-Breitseite ab, dass die Menge sich in ein sturmgepeitschtes Meer verwandelt. Dafür ist sie gekommen, für „YYZ“, „Tom Sawyer“, „Spirit of Radio“ und „2112“. Geddy Lees Bassgitarre ist enorm schwer und schnell, sein Gesang ganz der alte. Der Mann ist sechzig und sieht zwanzig Jahre jünger aus. Alex Lifesons Gitarre ist vielgestaltig wie immer. Neil Peart an den Drums lässt einem die Kinnlade runterklappen, aber auch dafür kommen die Leute: um einen der weltweit Besten noch mal zu sehen, ehe er vielleicht bald keine Lust mehr hat und nur noch Bücher schreibt. Ein Drummer, der Bücher schreibt – das hat es so nur bei Rush gegeben. 
Eine gleißende Weihestunde der poetischen Technokraten. Danke noch mal.