Mittwoch, 5. Juni 2013

Die Technokraten

Rush haben damals dabei mitgeholfen, dass ich den Kalten Krieg ideologisch halbwegs unangetatscht überlebt habe. Ihre Platten brachten Weltbürgertum-Feeling auch in die Provinz und zu desorientierten Bartflaumträgern. Die Dinge wurden distanziert, aber nicht eskapistisch, von oben betrachtet und mit Humanismus alter Schule garniert, statt sich im Gesuhle ideologischer Grabenkämpfe zu verlieren. Da ist etwas Dankbarkeit angebracht. Die Beziehung heute ist allerdings eher eine ambivalente, wie bei vielen der alten Recken, die nach wie vor aktiv sind. Deutschland-Konzerte von Rush sind selten, wir waren 1988 auf einem in Frankfurt, aber hinfahren würde ich da heute eigentlich nicht mehr. Wenn die Band aber sozusagen in Sichtweite und fast fußläufiger Entfernung spielt, dann ist das Schicksal. Etwas juckt da noch, etwas verlangt, dass ich meine Dankbarkeit für damals zum Ausdruck bringe. 
Aus allen Regionen Deutschlands kommen sie an, die Fans. Aus Benelux natürlich auch, aus Großbritannien, man hört sogar Schweizer. Jeder zweite trägt ein einschlägiges T-Shirt. Viele Nerd-Häschen darunter, gesetzte Herren, ein paar Hardrocker und prollige Holländer. Und mehr Frauen, als die hippen Pop-Spötter der Gazetten, die solche angeblich geschlechtsspezifischen Dinosaurier-Bands verachten, es wahrhaben möchten. Die Arena ist nicht ausverkauft, aber gut gefüllt. Wir haben einen Sitzplatz, für mich das erste Mal überhaupt. Ganz schön anstrengend und ein bisschen einengend, dieses Sitzen. Aber da die Sache mehr als drei Stunden dauert – mit satt zweieinhalb Stunden reiner Spielzeit –, war das wohl eine gute Entscheidung. Wir weichen ohnehin nach ein paar Songs in eine völlig leere Reihe nach hinten aus, weil der Typ vor uns seinem dicken Kumpel unablässig Weisheiten ins Ohr brüllt und dabei lauter ist als die Musik. Armer dicker Kumpel. 
Die Show ist eines der aufwendigsten Konzerte, das ich je gesehen habe. Ohne hypersmarte Computerprogramme geht da nix mehr. Das ist auch mein Kritikpunkt seit jeher: Technokratismus statt Spontaneität. Aber Rush verstehen sich nun mal als Multimedia-Band, die nicht einfach nur Stücke spielt und sich durch eine schicke Lightshow illuminieren lässt, sondern alles visuell kommentieren muss durch exzessiven Kameraeinsatz, raffinierte Animationsfilme und Pyrotechnik: das Bühnengeschehen, die Songinhalte, das Publikum. Rush sind Geschichtenerzähler per se, und so etwas muss durchorganisiert sein. Wir sind hier schließlich nicht beim Poetry Slam. Allein das Computerprogramm, das das Live-Geschehen schneidet, in Schnipseln auf die Videoleinwand wirft und dafür immer neue Effekte und Steampunk-Rahmungen findet, dürfte sündhaft teuer gewesen sein. Die Technik erschlägt dabei allerdings nicht die Musik, denn dafür sind die Kanadier einfach zu virtuos und stehen zu sehr im Zentrum allen Geschehens, sind sie zu sehr die Stars des Abends – eine Fan-Hingabe, der sich die drei allzeit bewusst sind und die schon früh eine sympathische Seite von Rush hervorgebracht hat: die ans Absurde grenzende Selbstironie, die für einige Lacher gut ist. 
In der ersten Hälfte spielt die Band eine ganze Latte älterer Stücke, erstaunlich viele aus den Mittachtzigern („Force Ten“, „Grand Designs“, „The Big Money“). In der zweiten Hälfte wird es mit dem Vorstellen des aktuellen Albums Clockwork Angels so richtig aufwendig, die paar Tausend in der Arena verharren aber eher im Zuhörermodus und wirken in sich gekehrt. Die neuen Stücke sind musikalisch ganz weit vorne, aber im Sinne eines symphonischen NuMetal ziemlich sperrig und schwer. Nach hinten raus, wenn das Steampunk-Bühnenbild wieder zurückgefahren wird und die Klassiker-Songs folgen, geben Rush eine dermaßen heftige Hardrock-Breitseite ab, dass die Menge sich in ein sturmgepeitschtes Meer verwandelt. Dafür ist sie gekommen, für „YYZ“, „Tom Sawyer“, „Spirit of Radio“ und „2112“. Geddy Lees Bassgitarre ist enorm schwer und schnell, sein Gesang ganz der alte. Der Mann ist sechzig und sieht zwanzig Jahre jünger aus. Alex Lifesons Gitarre ist vielgestaltig wie immer. Neil Peart an den Drums lässt einem die Kinnlade runterklappen, aber auch dafür kommen die Leute: um einen der weltweit Besten noch mal zu sehen, ehe er vielleicht bald keine Lust mehr hat und nur noch Bücher schreibt. Ein Drummer, der Bücher schreibt – das hat es so nur bei Rush gegeben. 
Eine gleißende Weihestunde der poetischen Technokraten. Danke noch mal.