Dienstag, 15. September 2009

Gratis Kaffee

Ein Jahr nach dem Abkacken der Lehman-Brüder und ihrer Brut war es mal wieder an der Zeit, im persönlichen Gespräch die eigenen Groschen zu analysieren und sie der neuen Situation anzupassen. Außerdem bekommt man gratis Kaffee. Hätte ich mehr Kohle anzulegen, bekäme ich vielleicht auch noch einen zweiten Kaffee. Zur wohlbekannten Beraterin stößt diesmal eine zweite, jüngere Dame. Sie trägt ein Namensschild. In der kleinen Filiale trägt sonst niemand ein Namensschild. Sie stammt nicht von hier, das merkt man. Warum sie an dem wenig brisanten Gespräch teilnimmt, wird mir nicht mitgeteilt. Mich beschleicht die Vermutung, dass sie sich aus den höheren Stockwerken der ziemlich hohen Bankzentrale nach unten begab und im Firmen-BMW rübergedüst kam in den äußersten Westen der Republik, um hier mal einigen der kleinen Investmentberatern auf die Fingerlein zu schauen. Neue Sitten, strafferes Regime. Sie ist supernett, nicht wenig attraktiv in ihrem Business-Damenanzug mit Halstuch und hat diesen merkwürdig starren Blick, unter dem die wohlbekannte Beraterin neben ihr ein wenig nervös wirkt. Und sie schreibt dauernd irgendwas mit, obwohl ich gar nichts gesagt habe. Bin ich hier mitten in einer Prüfungssituation gelandet, ohne dass ich selbst der Prüfling bin? Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, jedoch spielen die beiden auf entzückende Weise „Team“. Nur wegen mir, wie reizvoll!
Als die wohlbekannte Beraterin zwischendurch mal den Raum verlässt, meint die andere, sie hätte gehört, ich arbeite für Verlage. Eine Freundin von ihr hat einen Fantasy-Roman geschrieben. Sie flitzt nun ebenfalls mit wehendem Halstuch raus und kommt mit einem Werbe-Flyer des Buchs zurück. Sie hätte immer welche von denen dabei, meint sie. Kleinverlag, bemerke ich. Generische Fantasy mit Pseudo-Comic-Cover. Ich schaue offenbar zu skeptisch drein, rümpfe eventuell sogar die Nase, das ist nach all den Jahren voller Bockmist ein schwer zu kontrollierender Reflex. Also erklärt sie mir, die Freundin hätte eine Menge tolle Bewertungen auf Amazon bekommen. Ich verzichte darauf, ihr mitzuteilen, dass ich auf Amazon ausschließlich schlechte Bewertungen lese, weil die guten meistens ohnehin von Familienmitgliedern stammen. Die Bemerkung, dass „neunzig Prozent aller Manuskripte sowieso für die Tonne sind“, wollte ich auch gar nicht anbringen, aber sie rutscht mir dennoch heraus. Sie nickt wissend, schaut aber etwas starrer als zuvor. Darf ich den Flyer mitnehmen?, frage ich und trinke meinen Gratis-Kaffee aus. Ein paar Tage später krame ich den Flyer heraus, schaue im Netz nach und stelle fest, dass die Autorin natürlich aus der Finanzbranche stammt. Auch dort wird also von magischen Welten geträumt. Kein Wunder. Und ich lese eine schlechte Rezension auf Amazon, die allerhand sprachliche Katastrophen aufzählt, bei denen selbst dem trockensten alten Buchstabenverdreher die Hämorrhoiden rot anschwellen. Nachdem sie wieder abgeschwollen sind, nicke ich wissend und denke bei mir: Macht ihr mit den Firmen-BMWs und den adretten Halstüchern mal euer Finanzzeug und legt unsere Groschen vernünftig an, die Bücher machen derweil weiter die Autoren und wir. Diese Welten sollten sich nicht so mir nichts, dir nichts berühren.