Montag, 21. Juni 2010

Radau im Dinosauriergehege

Offenbar gibt es mit dem neuen Hawks-Album Blood of the Earth, das für heute vorgesehen war, Lieferschwierigkeiten in UK, weswegen sich das wohl noch etwas verzögert. In der schönen neuen Welt der MP3s ist die Platte aber bereits angekommen, und ich habe die paar läppischen Kröten mal eben investiert, um das Werk über Amazon.de runterzuladen, schmucklos zu brennen und der Heiligen Stereoanlage zur Kenntnisnahme vorzulegen. Couldn’t wait much longer.
Als physischer Tonträger erscheint es in dreifacher Ausführung, und der Verkaufsschlager wird wohl die Doppel-CD mit den Live-Tracks auf der zweiten Scheibe sein.
Das letzte komplette Studioalbum, Take Me To Your Leader, stammt von 2005, das davor, Distant Horizons, sogar von 1997. Die Lücken wurden gefüllt mit permanenten Tourneen durch UK, Live-Alben unterschiedlicher Qualität, Pröbchen, Solo-Ambitionen, DVDs sowie der noch nicht ganz abgeschlossenen Neuauflage der Alben von 1976-97. Für den Freund des dumpfen Rockens, gepflegten Zischens und tuckernden Blubberns gab es also seit der zweiten Neunzigerhälfte nicht gerade inflationär viel neues Material aus den Earth Studios in Devon.
Ich bezweifle, dass die Hawks überhaupt mit irgendeiner noch existierenden oder reunionierten Dinosaurier-Band zu vergleichen sind. Sicher, es gab in den mageren letzten Jahren die Tendenz, zur eigenen Tribute-Band zu verkommen, wie so viele andere auch, aber dann wurde gegengesteuert und aus der Not eine Tugend gemacht. Es wurden kräftige Klangfarben aufgetragen, altes Material angenehm aufgehübscht, neues Material aus dem Hut gezaubert, jüngere Talente aus der Peripherie herangezogen und aufgebaut, die Geriatrie durchsucht und dort aufgefundene alte Recken reaktiviert.
Die ständige Zugehörigkeit zur Gegenkultur und zum Underground, der schweifende Blick durch die Pop-Sphären, der Kampf mit sich selbst, die dauernden Häutungen, das Wegdriften aus dem öffentlichen Bewusstsein und das Herausfallen aus der Welt, das Festhalten an „intellektuellem Pulp“ und Space Opera, die Verquickung von fiepender HiTech mit Mutter-Erde-Schamanismus und Hippie-Gezausel, die drogenduselige Verbindung zwischen Proto-Techno und Heavy-Rock – all das hat die Band stets ausgemacht und fließt auf Blood of the Earth auf unverkennbare Weise ineinander. Dinosaurier im servogesteuerten Vollkörper-Kampfanzug. Die Iron Men des Spacerock.


Die Crew besteht diesmal aus: dem Gründungs-Captain des HW-Sternenschiffs, dem 68jährigen Dave Brock (m.); Richard Chadwick, HW-Drummer seit 1988 (r.); den neuen Kräften Mr. Dibs (2.v.r.) und Niall Hone (2.v.l.) sowie Synthie-Guru Tim Blake (l.), der schon 1979/80 mal an Bord war. Diese Besetzung bewies in Konzerten bereits Dichte und Beständigkeit, und ihr erstes Studioalbum gerät mit kleinen Abstrichen zu einem Triumph des Wahren-Schönen-Guten. 
Sechzig Minuten Geräusch, Sound, Sphärenklang, Ethno, Geisterstimmen aus Dimension sieben, verzerrte Spoken-Word-Proklamationen, melancholische, duellierende E-Gitarren, schwere Basslinien, stampfender Rhythmus, mächtige Gitarrenschichten, neo-proggiger Powerrock mit punkiger Anmutung. Die Abstriche hat ausgerechnet Captain Brock zu verantworten, der entweder zu alt oder zu faul zum Songwriting geworden ist und lediglich zwei seiner alten Kompositionen neu in den Ring wirft. Warum er an seinem Mittachtziger-Solo-Stück „Sweet Obsession“ einen Narren gefressen hat, weiß man nicht, aber die Neueinspielung im Bandkontext wirkt anachronistisch und ist zudem zu happy für dieses doch recht dunkle Album. Die erste offizielle Studioaufnahme von HWs 74er-Live-Track „You’d Better Believe It“ begeht den Fehler einer zu extremen Dynamikschwankung, indem im Mittelteil des schnell stampfenden Seventies-Rockers eine großflächige, nichtssagende Space-Lounge-Passage eingefügt wird, zu der man zugegebenermaßen auf den Raumstationen des Sonnensystems nett smalltalken und den ein oder anderen futuristischen Cocktail schlürfen könnte. Der rockige Part hingegen klingt so dumpf, als erschalle er gerade aus dem seit 1974 nicht mehr gelüfteten Übungsraum.
Aber, aufgepasst, es gibt noch neun weitere Stücke auf Blood of the Earth, und die erste halbe Stunde dieses Albums gehört spontan zum Besten, was selbst die inszenierungsfreudigen Hawks je unters Volk gebracht haben. Die neuen Leute Dibs und Hone haben eine Menge Spaß, wie's scheint, und es handelt sich mal wieder um eines jener Alben, auf denen Dave Brock freiwillig zurücktritt hinter die kreativen Ideen der anderen. Ihn als Diktator zu diffamieren, der lediglich Kirmesmusikanten um sich schart, die ihm willenlos zuarbeiten, erscheint nach einem solchen Album absurder denn je. Das hier ist Teamwork. „Seahawks“ artikuliert sich zum Einstieg erstmal als pures alarmistisches Drama: Nebelhorn, Meereswellen und Metal-Gitarren, stoischer Rhythmus, vielgestaltiges Gitarrengequieke, jaulende Keyboards im Drama-Modus, düster-apokalyptische Gesamtanmutung, der Soundtrack zur Ölkatastrophe. Das phänomenale Stück geht über in den Titeltrack, ebenfalls wieder Öl-Thematik, aber mehr so düster-choralige Space Odyssey, ehe mit „Wraith“ richtig ins pralle Leben gegriffen wird. Melodischer Metallo-Prog-Punk-Radau mit Glückshormongarantie: Es ist wild! Die pastorale Schönheit von „Green Machine“ bringt einen fast zum Heulen, so melancholisch gerät das, die reinste Jenseitsvision, ehe mit „Inner Visions“ ein weiterer Höhepunkt folgt. Wie ein Krautrock-in-Arabien-Ethno-Kiffer-Experiment aus den 70ern, aufgedonnert mit modernsten Sounds, einer enormen Dichte und exotischen Instrumenten, unter anderem der Gast-Geige von Levellers-Mann Jon Sevink. Tanzbarer Tumult. Aus allen Winkeln und Ecken des Albums springt einem zudem Synthie-Wizard Tim Blake entgegen: Er hatte großen Anteil an dieser Platte, und es wäre zu hoffen, dass er der Band noch lange erhalten bleibt. Er ist der kleine ungezogene Kiffer-Bruder von Jean-Michel Jarre, nicht nur funktionaler Keyboarder und Erfüllungsgehilfe des Songs, sondern eigenwilliger Tüftler und Sound-Schamane, der die Stücke ebenso großflächig anstreicht, wie er sie konzertan verfeinert. Die Gattin schrie sogar zwischendurch einmal über den Lärm hinweg: „Das ist Bolero!“ Und Blakes blitzschnelle Duelle mit Hones Leadgitarre und Sevinks Gast-Geige muss man ebenfalls gehört haben. 
„Comfey Chair“ ist wieder eine dieser Collagen, die sich aus einem relaxten Spoken-Word-Beginn hocharbeitet zu spannendem Sound-Exkurs, während Bassist Mr. Dibs die zwei melancholisch-balladesken Stücke „Prometheus“ und „Sentinel“ beisteuert, von denen ersteres sich erneut zu einem exzellenten Space-Epos, einem HW-Klassiker, auswächst und letzteres fast mainstreamig ausfällt. Der Schlusstrack „Starshine“ findet sich nur als Bonustrack auf dem Kernalbum – auf der Doppel fehlt er –, was aber nicht weiter ins Gewicht fällt: Er könnte aus den Mittneunzigern stammen, ist der Kehraus einer großen Spacerock-Party, bleibt aber eine Weile im Ohr hängen wegen der klackenden Rieseninsektengeräusche von Heinlein'schen Ausmaßen.
Mächtige SciFi-HiFi-Sound-Soße, aber weniger schwermetalliges Powergedröhne als vielleicht erwartet. Oft ruhig und melancholisch, nicht wenig konzertan, ab und an angejazzt, aber dennoch mit genug schweren Tumulten, um klarzustellen, wer hier der Master of the Universe ist.

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