Freitag, 12. Juli 2013

Under Wraps

Kein Tull-Album ist bei Fans verhasster als Under Wraps von 1984. Zumindest bei jenen, die die Siebziger für das Nonplusultra hielten und noch nicht recht in den neongrellen Achtzigern angekommen waren. Zugegeben, Ian Anderson und Co. muten ihnen hier einiges zu: Elektronik noch und nöcher, viel mehr als auf dem umstrittenen A. Und vor allem: eine Drum-Maschine! Grä-häää-sslich! 
Wer jedoch damals auf Zack war, hätte ahnen können, wohin die Reise geht. Anderson hatte ein Jahr zuvor sein erstes Solo-Album Walk Into Light vorgelegt, und es wurde – im Duett mit dem damaligen Tull-Keyboarder, Chefsynthetiker und Pop-Adepten Peter-John Vettesse – ein größtenteils elektronisches Album, auf dem der Flöterich seinem Instrument eine Kooperation mit Synthesizer-Texturen verordnete und zudem sein ureigenes Songwriting in diesem Zusammenhang erforschte. Walk Into Light war Pop, teils hibbelig und chartskomtapibel, teils getragen und komplex. Meine Favoriten: die elektrofolkloristischen Stücke „Made in England“ und „Toad in the Hole“ sowie das leicht angegruselte „Different Germany“, das sich an einer atmosphärischen Bestandsaufnahme Deutschlands in den frühen Achtzigern versucht. Kein Wunder, dass Anderson dieses Interesse an elektronischer Klangerzeugung in den Tull-Kosmos hinein verlängerte und der Band-Diskographie Under Wraps aufnötigte. 
Auf dem Album geht es wieder – und vielleicht stärker denn je – um die Themen des Kalten Krieges, um Geheimdienstspielchen irgendwo zwischen John le Carré und James Bond (man beachte auch das Maurice-Binder-artige Cover), Agenten-Liebschaften, Ost-West-Kommunikation, das Spannungsfeld zwischen Kapitalismus und Kommunismus und sogar um „Star Wars“. Den Reagan’schen Sternenkrieg wohlgemerkt, nicht den von Lucas. Die Musik scheint – wieder unter dem Einfluss von Peter-John Vettesse – das umzusetzen, wovor Anderson sich auf den beiden vorherigen Tull-Alben offenbar noch scheute: Er entkleidet die Strukturen bis aufs Skelett und macht die Arrangements schlank und poppig. Beim zweiten Hören zeigt sich jedoch wieder das alte Muster: Es hört sich zwar leichtfüßig an, ist jedoch sehr kompliziert gebaut und arrangiert. Die eklatante Spielfreude der ehedem handgemachten Tull-Musik wird ersetzt durch elektronische Tapeten, Synthie-Fanfaren und Sequencer-Effekte. Die hell aufstampfenden, kalten Rhythmen (produziert von einem hippen Fairlight CMI) sind tatsächlich sehr auffällig, und im Zusammenspiel mit dem funkigen Bass, den transparenten Arrangements und ein paar wavigen Gitarrenlinien macht sie Jethro Tull zur intellektuellen Zeitgeist-Popband. Was ziemlich gut zu den Texten passt. 
Diese Platte ist ein Unikum, bewundernswert abgedreht, und ich bin froh über die Remastered-CD-Version und das Hinzufügen einiger schwergewichtiger Bonustracks, welche ziemlich genau zeigen, wie die Komplexität von Andersons Songwriting ins Elektro-Rock-Gewand gekleidet werden kann. 
A und Broadsword haben sich letzten Endes als zeitloser erweisen, Under Wraps bleibt ein Produkt seiner Epoche. Aber es ist allemal einen Durchmarsch wert, und sei es auch nur, um die zahllosen Effekte zu bestaunen und eines Rockmusik-Geschichtenerzählens teilhaftig zu werden, das stets seinesgleichen suchte. Nach einem klasse Song wie „Later That Same Evening“ kann man sich im Grunde das Gesamtwerk von John le Carré sparen.