Mittwoch, 30. April 2008

1. Mai, früher

Das Dorf liegt im Tal, an einer Flusskehre, und schmiegt sich an einen verhältnismäßig sanften Hang. Auf der anderen Flussseite, die zum Großherzogtum Luxemburg gehört, geht es hingegen steil und dunkel bewaldet bergauf, so dass man beinahe ein wenig Platzangst bekommen könnte, wenn man nicht das ganze Leben hier verbracht und sich längst daran gewöhnt hätte.
Meine Cousine Ulrike hatte damals diesen Traum, von dem sie uns berichtete und der uns alle verständnisvoll nicken und auch ein bisschen schaudern ließ. Sie sei den Waldhang hochgekraxelt, und oben hätte sie eine gruselige dunkle Schlucht vorgefunden, einen dunklen Weltende-Abgrund, in den sie hineingefallen sei. Sie wohne jetzt ihr ganzes Leben im Schatten dieses Hangs, meinte sie, und wolle doch endlich mal sehen, was um Himmels willen bloß dahinter ist.
Wir aktivierten den harten Kern der Dorfjugend zum Wandertag an einem warmen, beinahe sommerlichen 1. Mai.
Die Luxemburger (oder „Schangen“, wie wir sie damals nannten = Verballhornung des gebräuchlichen Vornamens Jean) hatten beim Nachbardorf den Fluss gestaut und einen Kanal gegraben, der etwa auf Höhe unseres Dorfs Wasser auf die Turbinen eines kleinen Kraftwerks leitete. Aus irgendwelchen ingenieurstechnischen Gründen war es deshalb notwendig, den Fluss zu beruhigen und mit steinernen Stauwehren zu versehen, flachwinkligen Gebilden mit geregeltem Wasserdurchfluss und Fischtreppen. Da die nächste offizielle Brücke sich erst im Nachbardorf befand, fünf Kilometer entfernt, marschierten wir natürlich über das erste Wehr, was gar nicht so ungefährlich war. Wir nassforsche Kiddies mit einigen Nichtschwimmern und Wasserscheuen im Schlepp mussten über Aussparungen springen und liefen dabei Gefahr, rechts in den Fluss zu klatschen oder links in die Fischtreppe. Natürlich waren solche Grenzübertritte streng verboten, überall standen Warnschilder. Wir ignorierten sie. Danach mussten wir am Kraftwerk vorbei und dessen Treppen benutzen, wobei die Luxemburger Angestellten, die das mitbekamen, uns unverständliche Dinge hinterherriefen. Die Polizei oder den Zoll haben sie jedoch nicht verständigt. Wir blieben unbehelligt, unsere Eltern mussten uns nicht auf irgendeinem Polizeirevier abholen.
Dann begann die Kraxelei. Wir starteten vom gegenüberliegenden Luxemburger Dorf, heute ein Highlight des Tanktourismus, von dem aus Wege in den Waldhang führten, kämpften uns durchs Gestrüpp, fanden uns wieder im beeindruckend stillen Forst und verloren beinahe Irmgard. Bei solchen Wanderungen verloren wir beinahe dauernd Irmgard, denn sie war etwas ängstlich und blieb gerne zurück. Ich entsinne mich an einen Fahrradausflug ein Jahr zuvor, bei dem es ein herrliches Gefälle runterging, das wir alle euphorisch genossen. Unten warteten wir eine halbe Stunde auf Irmgard, bis sie im Schneckentempo, mit blasser Gesichtsfarbe und panisch umklammerter Fahrradbremse ebenfalls angequietscht kam.
Wir machten uns an die Erklimmung des Hangs, durch die Bäume hindurch immer unser Heimatdorf vage im Blick, denn es lag ja direkt gegenüber am anderen Flussufer. Einige von uns brüllten Dinge hinüber, aber ich weiß nicht, ob irgendwer uns bemerkte. Wir kamen nach einiger Schwitzerei und dreimaligem Beinahe-Herabkullern schließlich oben an, oben am Hang, der Ulrike ihren Albtraum beschert hatte. Und wir blickten natürlich nicht in den Abgrund am Ende der bekannten Welt, sondern über ein Luxemburger Hochplateau mit Wiesen, Kühen, Äckern und weiterem Wald. Wir marschierten drauflos, tranken in der Gastwirtschaft Brause mit Kohlensäure, vielleicht schmierte uns die Luxemburger Wirtin auch ein paar Brote, weiß ich nicht mehr. Um die berühmte Marien-Wallfahrtskirche Girster Klause zu suchen, die sich, wie wir wussten, irgendwo in der Nähe befinden musste, waren wir nun doch zu erschöpft und traten stattdessen den kullernden Rückweg an. Kann sein, dass wir uns an der Shell-Tankstelle noch jeder ein „Eskimo Pie“ kauften, ein Waffeleis, das wir genauso aussprachen, wie wir es lasen: „Eskimopi“. Das Besondere daran war, dass man einen eingewickelten Eisblock erstand und die beiden Waffeln extra, so dass man das Eis eigenhändig auspacken und zwischen die Waffeln quetschen musste. Exzentrisch, diese Schangen. Kann auch sein, dass wir uns nach der Rückkehr unten im Dorf bei Herrn Funke jeder noch ein „Brauner Bär“ gönnten. An Kraftwerk und Flusswehr hatte uns diesmal niemand behelligt, und wir kehrten alle wohlbehalten zurück, auch Irmgard überlebte. Ulrike hatte ihren Albtraum nie wieder, zumindest erzählte sie nichts mehr davon.

Dienstag, 29. April 2008

Als Volker und ich Musiker waren

Ich weiß nicht mehr genau, wann das war, entweder kurz vor dem Abitur oder unmittelbar danach. Rund um 1985/86. Mein Schulkumpel Volker und ich trafen uns, angetrieben von unserem Musikenthusiasmus, zu Sessions. Volker kam aus dem Melodic Rock und wandelte sich zum Freund des innovativen Pop Marke Philip Boa & The Voodoo Club, später zum deftigen Punk (EA80). Er hatte einen jüngeren Bruder, der Heavy Metal bevorzugte und eine Riesenplattensammlung besaß, der Volker ebenso teilhaftig wurde. Ich wiederum kam aus dem Progressive Rock, dem Post-Punk und Psychedelia/Space Rock und schrieb, scheiße ja, Gedichte. Schlechte Gedichte, möchte ich hinzufügen. Für eine gewisse Bandbreite war also gesorgt, und damals in Volkers Jugendzimmer konnten wir blassen Blindschleichen die Dinge wunderbar analysieren und herrlich klugscheißen. Nur wie man selbst Musik machte, davon hatten wir keine Ahnung. Dem sollte abgeholfen werden. Volker war der Kopf, der Theoretiker, derjenige, der sich mit Noten und Musiktheorie auseinandersetzte. Er kaufte sich ein Keyboard und studierte es regelrecht. Sein Vater war damals Hallenwart der Turnhalle des Trierer Post-Sport-Vereins, und unser Übungsraum war somit schnell gefunden. Ein Raum mit großartiger Akustik. Ich brachte meine Mandoline mit, Volker war völlig verblüfft, wie schnell und melodiegeil ich auf dem Ding war, obwohl ich zu Hause im Verein bestenfalls Mittelmaß darstellte. Volker aktivierte neben dem Keyboard noch seine Akustikgitarre, und wir bauten mir ein improvisiertes Schlagzeug, das aus einigen professionellen Trommeln bestand und ansonsten aus Büchsen, Konservendosen und leeren Waschmittelgroßpackungen („Dash“). Die Drumsticks waren große, massive Bleistifte, Touristensouvenirs aus irgendeinem Bayernurlaub mit den Eltern, die ziemlich gut zu gebrauchen waren als Trommelstöcke. Und dann improvisierten wir, und Volker nahm unser Geschepper auf Band auf. Manchmal sang er meine oder eigene Texte. Er war kein guter Sänger. Ich selbst traute mich das nicht mal. Es ging eine Zeitlang, bis irgendwer keinen Bock mehr hatte, im Zweifelsfall ich. Vermutlich deshalb, weil die Post-Sport-Turnhalle selten von Groupies frequentiert wurde. Volker hingegen blieb mit Feuer bei der Sache, ersetzte das Keyboard irgendwann durch eine Bassgitarre und studierte nun dieses Instrument. Als ich es mal spielen durfte, war er überrascht, welch schnelle Läufe ich darauf absolvieren konnte, obwohl ich gar nicht wusste, was ich da spielte. Dilettantismus in seiner reinsten Form.
Volker ließ die Provinz dann hinter sich, wurde punkig und ging nach Hamburg ins Schanzenviertel, wo auch schon sein Bruder war. Regelmäßig kehrte er zurück und berichtete von seinen Ambitionen und neuen Kumpels, mit denen er jetzt Musik mit linken Inhalten machte. Ich erinnere mich an einen Songtitel von ihm: „Wolfgang-Schäuble-Blues“. Ja, Schäuble war nämlich schon mal Innenminister. Volker und sein Kumpel hätten eine Art frühes Drum’n’ Bass-Polit-Projekt am Start, berichtete er, und er hätte dem Kumpel, Schlagzeuger, mal unsere Sessions von damals vorgespielt, woraufhin der Kumpel hellauf begeistert gewesen sei von meinem Schlagzeugspiel auf all den Dosen und Büchsen. Es fielen Worte wie „geniale Spontaneität“ und „Jazzrock“. Ich wurde also von Hamburger Kunst- und Stilwilligen zu Kunst erklärt und musste dabei peinlich berührt lächeln. „Volker, ich hatte doch keine Ahnung, was ich da tat.“ Nichtsdestotrotz trommele ich noch heute manchmal beim Fernsehgucken auf der Bettkante einen Rhythmus und finde, dass ich ihn ganz gut halten kann. Vermutlich bin ich ein nie kultiviertes Naturtalent, das zu schnell den Bock verlor. Volker und sein Hamburger Kumpel jedenfalls nannten sich bald darauf Waldorf & Statler und brachten es mit ihrer No-Style-Schrulligkeit zu gewisser Szene-Aufmerksamkeit sowie einer Split-Single zusammen mit Kante, einer aufstrebenden Band der Hamburger Schule, die sogar eine mittelgroße Nummer wurde. Hörten sich für mich immer ein bisschen nach Sonic Youth an.
Tja, Volker antwortet heutzutage irgendwie nicht mehr auf Zudringlichkeiten alter Trierer Kollegen. Will ich ihm nicht verübeln, dennoch ist es schade. Sobald man in die Retrospektive fiele (und das machen Kerle unseres Alters unablässig), gäbe es wirklich einiges zu lachen.

Montag, 28. April 2008

Technokraten

Der flotte kanadische Dreier Rush war in meinen Sozialisierungsjahren eine der angesagten Oberstufen-Bands. Bei solchen Oberstüflern, die sich darin gefielen, „progressiv“ zu sein. Ich ging Rush selbstverständlich auch auf den Leim. Sie waren „thinking man’s rockband“, und es war damals absolut opportun, gleichzeitig zu denken und zu rocken. Rush waren das mondäne Alternativprogramm zu solch provinziellen, nörgelnden, allgegenwärtigen, um nicht zu sagen dominanten Jugendverderbern wie BAP, die einem dauernd die Welt erklären wollten. Und das auch noch auf Kölsch! Eklig. Das grenzte an Nötigung und konnte nicht akzeptiert werden. Rush war gleichbedeutend mit Großer Weiter Welt und belieferte eine globale Community libertärer Rocker und Denker und nicht kleine Cliquen deutscher Nachrüstungsgegner, die sich ihre Pullover selbst strickten und in der Kölner Südstadt Bierdeckel sammelten, auf denen Niedeckens Kölschstange gestanden hatte.
Irgendwo zwischen den Alben Grace Under Pressure und Power Windows fixten mich die Kanadier an, und das ausgerechnet in ihrer bräsigen 80er-Keyboard-Phase. Jeder wollte damals Keyboarder sein und hinter den Tasten ein bisschen crazy herumzappeln. Damals war es in, heute wird es verabscheut: das Zuspachteln von Songs mit Keyboard-Geschwurbel. Rush hörte sich eher nach Sounddesign an denn nach Rockmusik, nach 80er-Innenarchitektenmusik, bei deren Genuss man sich am liebsten ein bisschen im Schlamm wälzen wollte. Rock muss nun mal eben auch Dreck hinterlassen. Dieser Auffassung waren Rush damals nicht. Sie waren propere Jungs, und es stand zu befürchten, dass sie sich irgendwann anhören würden wie Saga, die properste aller properen Bands, die so keimfrei rockte, dass ich wetten würde, die Keyboardtasten waren nach jedem Song mit antibakteriellen Feuchttüchern abgewischt worden. Ganz so schlimm war es mit Rush nicht, denn immerhin waren sie ja schon älter und trugen einige deftigere Platten im Gepäck: Permanent Waves, Moving Pictures und (in Teilen) Signals. Ihre ganz frühen Hardrock-Sachen ab 1973 und die daran anschließende Pseudo-Progressive-Ära habe ich zwar goutiert, jedoch war diese Zeit des Glam, der Rock-Suiten und der hochnotpeinlichen Fantasy-Fabeln Mitte der 80er schon zu weit weg und zu elaboriert-scheiße. Ich hatte die eigene Progressive-Rock-Hörer-Phase schließlich gerade erst selbst erfolgreich abgeschlossen. Rush begann also für mich so richtig erst ab 1979 und den kürzeren, strafferen Songs.
1987 kam es, etwas verspätet, zu einem denkwürdigen Konzert in Frankfurt, zu dem Volkers Heavy-Metal-Bruder Helmut uns mit seinem kleinwüchsigen Hardrock-Honda im Tiefflug düste. Er fand in dem Getümmel sogar einen Parkplatz. Es war das erste und einzige Mal, dass ich nach einem Konzert einen (minder schweren) Hörsturz hatte und zum HNO-Doc musste. Und – neben ein, zwei Festivals – war es das wimmelndste Konzert meiner Konzertgängerkarriere. Gefühlte eine Million Menschen im Publikum. Schweißgerüche, peinliche Lederkutten, britische Iron Maiden-Fans und Platzangst. Anlass der Tour war das Album Hold Your Fire, auch wieder so ein zahnloses Design-Objekt, aber die Band kam zu selten nach Europa, um sie einfach so zu verpassen, nur weil einem das neue Album zu geschniegelt vorkam.
Nach einer recht intensiven Zeit mit o.e. drei Alben von 1979-82 war es dann auch irgendwann gut, obwohl ich noch regelmäßig die neuen Tonträger der Band erstand. Bis heute. Es war und ist aber eher Pflichterfüllung als Enthusiasmus. Ein-, zweimal durchhören und zur Kenntnis nehmen. An den Fähigkeiten von Geddy Lee (voc, b, keyb), Alex Lifeson (g) und Neil Peart (dr) gibt es nichts zu zweifeln, aber musikalische Könnerschaft kann eben mitunter auch kontraproduktiv werden: zu perfektionistisch und technokratisch, zu viel Gefrickel, kaum Spontaneität, Materialschlachten und Thesenhaftigkeit statt Emotion und Unmittelbarkeit. Aseptischer Meister-Proper-Rock. Außerdem lief die Band gerne den Trends hinterher und integrierte sie in ihr eigenes Konzept, was meistens halbherzig, schlimmstenfalls deplatziert klang. Neil Pearts Texte sind nach wie vor erwähnenswert, scheinen heute mehr denn je dem Spirituellen zuzuneigen, aber viele seiner früheren Arbeiten sind politisch höchst korrekte und grundehrliche Durchmärsche durch die globalen Themen der Zeit, die in ihrer Solidität echt langweilen. Eine Art frühe R.E.M. ohne den Verrätselungsfaktor, den Michael Stipes Lyrik aufweist. „Thinking man’s rock“ eben, aber heutzutage will ich beim Rocken nicht mehr so viel denken und lyrische Zeitkommentare und komplexes Gitarrenriff-Gefrickel zwangsanalysieren müssen, bevor ich den Song heraushöre.
Aus den schwülstigen Achtzigern holte Rush ausgerechnet der Schicki-Micki-Produzent Rupert Hine wieder heraus, was aber auch nicht wirklich ein Fortschritt war: Pop-Rock, der niemandem wehtat. Erst danach wurden die Drei wieder härter und rockiger, auf den jüngeren Alben ist überhaupt kein Keyboard-Kleister mehr zu vernehmen, dafür ungewohnt metallische Härte. Diese Trendverwertung zugunsten von Alternative und Grunge und NuMetal passte ganz ordentlich, denn nicht wenige von den hippen Trendsettern gaben die alten Rush-Herren als wichtigen Einfluss an. Womit die so Beeinflussenden die Nachkommen quasi rechts überholten, indem sie einfach wieder so klangen wie zu ihren besseren Zeiten.

Sonntag, 27. April 2008

Dialogkunst

Er: Du bist so ... wunderschön.
Sie: Das liegt nur daran, dass ich dich so sehr liebe.
Er: Nein, nein, das liegt daran, dass ich dich so sehr liebe.
Sie: Also bist du blind vor Liebe?
Er: (lacht) Nun, so habe ich das eigentlich nicht gemeint.
Sie: Aber wahrscheinlich ist es so.

Dienstag, 22. April 2008

Zugeschmissen

Eigentlich wollte ich heute mal in die Stadt, DVDs kaufen. Habe mir stattdessen ein paar Historienfilme bei Amazon geordert. Eine Fahrt oder ein Marsch in die Stadt kostet zu viel Zeit, denn man hat mich zugeschmissen. Hülfe, Hülfe! Zwei Redaktionen da, eine weitere unmittelbar voraus, zudem ein mittlerer Berg zum Begutachten: Stephen Baxter, Samit Basu, etwas "sehr Eiliges", das ab morgen zu erwarten ist, sowie ein paar Zerquetschte, die hierzulande ohnehin keiner kennt.
Die Welt besteht aus nichts als Papier.
Am Sonntag immerhin die Zeit gehabt, eine Südstadtführung von Stattreisen mitzumachen. Damit man mal mitkriegt, wo man hier überhaupt wohnt. Ich musste jedoch feststellen, dass ich, bis auf den Schlenker ganz am Schluss, alles schon kannte! Es ist recht übersichtlich hier. Das Highlight dieser Führung ist im Übrigen ein Aufstieg auf die "Bott", die Bottmühle. Eine Ex-Windmühle, in der heute die Kommunisten hausen bzw. die "Falken", eine sozialistische Jugendorganisation. Stattreisen hat eine Übereinkunft mit denen und darf seine Gruppen über die Wendeltreppe und an den ganzen Karl-Marx-Fotos vorbei bis aufs Dach steigen lassen, wo man einen nichts weniger als spektakulären Blick über die Südstadt erhält. Ich hätte da noch Stunden stehen können.

Freitag, 18. April 2008

Epidemie

Habe gerade ein paar eilige Gutachten an einen großen deutschen Verlag gemailt. Der soll echt froh sein, dieser große deutsche Verlag, dass es heutzutage E-Mail gibt. Hätte ich die als Ausdrucke geschickt wie früher, wären die alle von klitzekleinen Magendarmgrippe-Viren verseucht gewesen und hätten den ganzen großen deutschen Verlag angesteckt und außer Gefecht gesetzt. Von der Sekretärin bis zum Chef. Spätestens das Herumreichen der Gutachten bei Lektoratskonferenzen hätte sie alle ausgeknockt. Diese ansonsten durchaus beliebten Bewertungen aus der Feder der wacker schuftenden „Allzweckwaffe“ (O-Ton eines Lektors) hätten sich gegen das Haus gekehrt, ihm Verluste bereitet und zweifellos zu kostspieligen Problemen mit den hauseigenen Sanitäreinrichtungen geführt. Was andererseits wiederum die Münchner Klempner-Innung, die Zeitarbeitsfirma mit den vielen Gebäudereinigerinnen sowie die Hersteller von Biohazard-Schutzanzügen gefreut hätte.
Es wäre jedoch keinesfalls zu Wettbewerbsverzerrungen auf dem Buchmarkt gekommen, denn die anderen großen deutschen Verlage hätten ebenfalls verkeimte Gutachten von mir erhalten, und deren Belegschaft wäre es genauso ergangen. Während der Inkubationszeit und vor Einsetzen der fatalen Symptome hätten die wiederum mengenweise Bücher und Manuskripte eingepackt und an andere Gutachter verschickt, in den Päckchen mit drin: die lustigen Nachkommen meiner originalen Virenstämme. Viele hart arbeitende Gutachter landauf, landab würden nach Öffnung der Post dem Grauen anheim fallen und müssten dringend die Arbeit ruhen lassen. Übersetzer würden ebenso ausfallen. Abgelehnte Leseexemplare wären indes an Agenturen zurückgesandt worden, alle verseucht von den kleinen munteren V-Dingern, und hätten Agenten und ihre feschen Mitarbeiterinnen an die eigenen Sanitäreinrichtungen gefesselt. Einige wären in die USA oder Großbritannien retourniert worden und hätten die Krise auf ein globales Niveau gehoben. „Geheimnisvolles Grippe-Virus in New York. Menschen kotzen aus Hochhäusern. Home Security ermittelt. Verschärfung des Patriot Act im Gespräch.“
Der wirklich Leidtragende wäre indes der Leser: In etwa einem Jahr von heute an würden plötzlich eine Zeitlang keinerlei neuen Bücher mehr erscheinen, in den Vorschauen wären bloß weiße Flecken. Dann würden die Buchhändler nur mit den Schultern zucken, müssten all die armen Leser Däumchen drehen, Fernsehen gucken oder hemmungslos Liebe machen. Sicherlich würde neun Monate später die Geburtenrate drastisch ansteigen und wir hätten bald kein demographisches Problem und keine Sozialversicherungsdiskussion mehr. Meine Fresse, wenn man sich vorstellt, was für eine systemstabilisierende Macht so ein einzelner kleiner vergrippter Wicht hätte haben können, wenn nicht irgendeiner dieses Scheißinternet erfunden hätte!

Mittwoch, 16. April 2008

Grillhaxe

Möchte jemand wissen, wie eine gebratene Schweinshaxe nach 30 Stunden im Magen aussieht? Nein? Okay.
Bevor die Magen-Darm-Grippe ihre ersten Symptome zeigte, habe ich, blöd wie ich bin, eine Grillhaxe zu mir genommen. Erstaunlich war, dass sie 30 Stunden drinnen blieb und rumorte und rumorte, bevor sie an beiden anatomischen Enden wieder zum… argh. Ich lege mich jetzt hin und schweige.

Samstag, 12. April 2008

Jodie

Zwei Wohnungen über uns wohnt Jodie Foster.
Ich traf sie am Briefkasten und war ziemlich überrascht, denn keiner von uns hatte bislang an Briefkasten- oder Klingelschild den Namen „Foster“ bemerkt. Sie klärte mich darüber auf, dass sie hier inkognito wohne, wegen der Presse und so. Oft sei sie ja auch gar nicht da, wegen der Arbeit und so. Müsse oft nach L.A. Ich meinte, nee, von mir erfährt keiner was. Ich bin der Ralf. Jodie, sagte sie. Ich erbot mich auch, ihr beim Problem mit dem Wasseranschluss in ihrer Küche zu helfen. Nein, das ist jetzt nicht der Beginn eines Klempner-Pornos, so einer bin ich nicht, außerdem ist Jodie ja bekanntermaßen vom anderen Ufer. Nein, wir haben dieses Leitungsproblem nämlich auch. Vorerst empfahl ich ihr, ab und zu mal die Sicherung des Durchlauferhitzers rauszudrehen, das helfe im Allgemeinen eine Zeitlang.
Sie kam dann noch zu uns rein und aß mit uns Pellkartoffeln mit Kräuterquark. Ich war ganz nervös auf Tischsitten bedacht und schnitt die Kartoffeln schön säuberlich in Scheiben, während sie sie einfach burschikos in die Hand nahm und meinte, die müsse man so richtig tunken. Na, wenn Sie meinen, Frau Foster. Nenn mich Jodie. Okay.
Sie sprach mit meiner Lebensgefährtin über die Künste und was so los sei in den Museen. Frauengespräche eben. Danach redeten wir ein wenig über ihre Filme, aber nur wenig. Ich meinte eigentlich nur, dass sie mir in Das Schweigen der Lämmer am besten gefallen hätte, weil ihre Rolle irgendwie rund gewesen sei und die Interaktion mit Anthony Hopkins toll. Außerdem standen ihr die dunklen Haare. Hier und jetzt trug sie ein ausgebeultes rotes Sweatshirt und war blond. Außerdem ist sie kleiner, als man denken mag. Und wie 45 sieht sie gewiss nicht aus. Mehr wie 35. Sie bedankte sich artig und war überhaupt sehr nett. Die Presse hat unrecht, wenn sie behauptet, Jodie sei schwierig und unnahbar, denn das stimmt ganz und gar nicht.
Sie lud uns noch für Ende nächster Woche auf die Rheinwiesen ein, wo sie und ihre gerade in Köln drehende Freundin Kate Winslet inkognito ein bisschen Fußball spielen wollten. Ich meinte, ich wäre nicht gut im Fußballspielen. Macht nichts, sagte sie, wir spielen sowieso nur Mädchenfußball mit einem Gummiball.
Ich bot ihr auch noch an, fortan ihre Postpakete entgegenzunehmen, denn ich sei ja meistens den ganzen Tag da. O ja, das wäre super. Als ich dann mitten in der Nacht nervös aufwachte, fiel mir bestürzenderweise ein, dass ich mich gar nicht bereiterklärt hatte, die Pakete von Jodie Foster entgegenzunehmen, sondern die von Herrn Dr. B. Der ist doppelt so groß wie Jodie, viermal so breit und hat einen Vollbart. Es wäre ja auch zu schön gewesen.

Freitag, 11. April 2008

Klingelnde Schafe

Heute hat's hier auf dem Dorf geklingelt, und es stand nicht nur ein Schaf vor der Tür, sondern gleich drei.
Nebenan am Dorfrand gibt’s ein paar Weiden mit Schafen und Böcken. Sie gehören einem jungen Ehepaar, das sie nur aus Freude hält, ohne kommerzielle Interessen. Das Mutterschaf hat unmittelbar nach Ostern zwei Lämmer geworfen, und die Besitzerin war der Auffassung, sie müsse den beiden niedlichen Viechern mal die Welt zeigen und sie in der Nachbarschaft vorstellen. Also band sie dem Mutterschaf eine Leine um und führte es wie einen Hund durch die Gegend, die beiden Lämmer, eins weiß, eins schwarz, immer hinterdrein. Als es bei uns klingelte, öffnete mein Vater und blickte einem großen Schaf, zwei kleinen sowie der Besitzerin ins Antlitz, die ihn allesamt interessiert musterten und sich dann über das Rasenstück neben der Haustür hermachten. Die Schafe, nicht die Besitzerin. Ich stieß hinzu, lachte mir eins, vergrub die Finger in flauschiges Schaffell und lauschte dem niedlichen Blöken der Kleinen, während das Mutterschaf meine Hose zu essen versuchte. Der Nachbarhund flippte derweil aus vor Entzücken, denn er wollte mit den Besuchern unbedingt spielen, aber aus Rücksicht auf die nervösen jungen Dinger ließ man ihn nicht raus.
Das reinste Idyll. Jetzt, wo man sich kennt, ist es auch irgendwie beruhigend zu wissen, dass diese neuen tierischen Nachbarn nicht dem Gelderwerb dienen und demzufolge noch länger hier wohnen werden.

Donnerstag, 10. April 2008

The Wild Geese - das Buch

Daniel Carney: The Wild Geese/Die Wildgänse kommen.
Dieser Roman hat es durchaus in sich, nur leider weigert er sich standhaft, es herauszulassen. Ein regelrechtes Lehrstück dafür, was passiert, wenn ein Manuskript nachlässig oder gar nicht lektoriert wird.
Ich war zudem so dämlich, mir aus Bequemlichkeit die deutsche Ausgabe (1978, 10. Auflage 1985) zu besorgen, und die Übersetzung ist nichts weniger als ein Desaster. Das Buch sei all denen empfohlen, die heutzutage gerne an Übersetzungen herummäkeln. So sahen die nämlich früher aus. Heute wäre das schlichtweg nicht mehr möglich. Man sieht über die volle Länge das englische Original durchschimmern, als sei die Übersetzung nur eine drübergelegte durchsichtige Folie. Eigentlich hat man keinen deutschen Text vor sich, sondern einen völlig verkorksten Bastard. Der Verlag hat es selbst in der 10. Auflage noch nicht für nötig befunden, da mal einen Redakteur dranzusetzen. Aber für die zwei Groschen pro Seite, die man damals gezahlt hat, fand sich wohl schwerlich jemand.
Daniel Carney war ein ambitionierter Amateur, dem ein Lektor dringend seine Flausen hätte austreiben müssen, vor allem die katastrophalen Perspektivsprünge, die das Geschehen der Unübersichtlichkeit ausliefern. Carney weiß zudem nicht, ob er erzählen oder doch besser referieren soll, und schwankt dauernd hin und her. Sein Erzählen wimmelt von referatartigen Behauptungen, sein Referieren von epischen Einbrüchen, sein Reportagestil wird ständig von unpassenden Innensichten zertrümmert. Die Folge sind massivste Plumpheiten in Form und Inhalt. Ein einziges Kuddelmuddel, das einem das Weiterlesen verleidet. Dabei überfällt einen zugleich eine Ahnung, wie er es gemeint hat, bevor er es so amateurhaft niederschrieb.
Es wird sich immer mal wieder gerne über Lektoren beschwert, die die Texte hoffnungsvoller Jungautoren gnadenlos auf Linie (und Verkäuflichkeit) trimmen. Zu beachten wäre dabei: Viele dieser Texte sehen zuvor so aus wie Carneys Roman nach der Publikation. Er ist der beste Beleg für die Existenzberechtigung von Lektoren. Nun, auf Erfolg getrimmt werden musste The Wild Geese nicht, denn selbst in dieser Verfassung erlebte der Text allein in Deutschland mindestens noch zwei weitere Auflagen, also zwölf, und blieb wohl bis Ende der 80er im Programm. Der Erfolg des Films hat das Buch sehr lange getragen. Dennoch erschütternd, dass sich in all den Jahren nie jemand wenigstens um die Übersetzung gekümmert hat.
Es hätte sich womöglich gelohnt. Einige tolle Ansätze, Authentizität und Zeitbezug, Recherchen, die glaubwürdig in Handlung umgesetzt werden, unerwartet zarte Zugänge zu knallharten Typen, zu Hallodris, Rassisten, Militaristen – die heute als Romanhelden absolut nicht mehr tragbar sind. Carney nimmt sie sehr ernst und seziert sie ebenso interessiert wie illusionslos. Die Typen sind hier noch weitaus verkommener als im Film, und die Sache endet um einiges drastischer. Sehr ambivalent und ohne Gut-Böse-Schemata. Verzweifelte Träumer und Suffköppe, die sich angeregt über Tötungsmethoden unterhalten und zugleich dem Wesen der Welt auf die Spur zu kommen versuchen. Oder auch nur dem der merkwürdig unzugänglichen, beinahe biestigen Hure in Mosambik.
Und natürlich ist das hier ein erstklassiger Blick in die Infrastrukturen des alten Söldnergeschäfts und ins völlig rücksichtslose Buschkriegmilieu, in dem keiner irgendwelche Gnade kennt und die Regeln archaisch sind. „Die UNO wird das gar nicht freuen.“ Die Operation Präsidentenbefreiung ist viel detaillierter dargestellt als im Film, sie ist viel gefährlicher und blutiger, viel mehr auf Präzision angewiesen und Timing. Die Truppe nimmt gleich zu Beginn ihrer Afrika-Expedition fünf Ersatzleute mit, weil der Sergeant Major ohnehin davon ausgeht, dass bereits während der Ausbildung ein paar auf der Strecke bleiben. Drei Typen, die ihm wegen seiner harten Methoden eines Nachts ans Leder wollen, kreuzigt er mit Bajonetten. Harter Stoff, aber sowas von scheiße erzählt.
Der Roman wäre eines Frederick Forsyth durchaus ebenbürtig gewesen, wenn sich seinerzeit nur irgendwer erbarmt hätte, den Autor mal auf die richtige Erzählspur zu lenken. Schade drum.

Mittwoch, 9. April 2008

Ehrenbürger

Heute wird W. Pallien zum Ehrenbürger meines Heimatdorfes ernannt. Steht in der Zeitung. Herzlichen Glückwunsch.
Er war mal (oder ist immer noch) Erster Vorsitzender des Mandolinenvereins. Als ich circa 1985 an ihn herantrat, damit er mich aus den Mitgliedslisten streicht, fragte er ernsthaft entsetzt: "Was machst du denn jetzt in deiner Freizeit, Junge?"
"Ich werde schon was finden", meinte ich.

Dienstag, 8. April 2008

Traum

Merkwürdiger Traum letzte Nacht: Claus Hipp, Chef dieses Babynahrungsherstellers, steht auf einem Acker voller heranwachsender Bioprodukte, hält ein Glas Babybrei in die Kamera und sagt: „Dafür stehe ich mit meinem guten Namen.“
Als Name war nicht etwa „Claus Hipp“ eingeblendet, sondern „Ernst Stavro Blofeld“.

Montag, 7. April 2008

Senf

Den lieben langen Tag Bratwürste verkaufen und jedes Mal fragen „Mit Senf?“ Ein Dutzend Leute in der Schlange vor mir, alle wünschen Bratwürste, und jedes Mal die Frage der Verkäuferin: „Mit Senf?“
Wie mag es zu Hause zugehen bei der Bratwurstverkäuferin? Statt der Frage „Wie war dein Tag, Schatz?“ schallt dem Ehemann abends wahrscheinlich ein „Mit Senf?“ entgegen. Statt „Möchtest du noch Kartoffeln, Schatz?“ heißt es „Mit Senf?“ Beim Zubettgehen erklingt statt „Hast du Lust, Schatz?“ ein „Mit Senf?“
Wirklich schlimm wird es dann, wenn der Ehemann im Autohaus arbeitet und stets antwortet: „Seitenairbag gegen Aufpreis.“
Um der satzsemantischen Verödung der Bratwurstverkäuferin entgegenzuwirken, plädiere ich dafür, den Speisewunsch explizit zu äußern: „Eine Bratwurst mit Senf, bitte.“ Wenn sie dann immer noch fragt „Mit Senf?“, ist klar: Sie ist bereits verloren.

Heston tot

Man liest es überall, aber ich sag’s auch noch mal: Charlton Heston ist gestorben, mit 84. Eine Ikone ist von uns gegangen.
Erinnert sei an einen seiner letzten Auftritte als sterbender Vater von Affengeneral Thade in Tim Burtons Remake von Planet der Affen. Da warnt er seinen Sohn vor Menschen und vor Schusswaffen. Großartig.

Sonntag, 6. April 2008

Fauler Zauber

Eigentlich schaue ich mir keine amerikanischen Mystery-Serien mehr an. Sie gehen mir auf den Senkel. Wir schauten nichtsdestotrotz bei Das verschwundene Zimmer vorbei und blieben dann bis zum Schluss. Und ich bekam ein weiteres Argument geliefert, warum ich keine amerikanischen Mystery-Serien mag: alles fauler Zauber.
1961 verschwindet ein Motelzimmer mit 100 Gegenständen darin, diese tauchen wieder auf und besitzen plötzlich „magische“ Fähigkeiten. Die Macht der Dinge, und wir sind plötzlich irgendwo zwischen „Madame Moribundis Kuriositätenkabinett“, einem Bühnenauftritt des "Großen Rinaldini" und einer Computerspiel-Mission gelandet. Seit 61 bekriegen sich mehrere Organisationen und Einzelgänger, um in den Besitz möglichst vieler dieser mächtigen Objekte zu kommen. Ein Polizist, der an den Zimmerschlüssel gerät (mit dem er durch jede Tür der Welt eben dieses Zimmer betreten und von dort aus jeden Ort der Welt nur durch Vorstellungskraft erreichen kann), wird in den ganzen Zirkus verwickelt, als seine Tochter im Zimmer verschollen geht. Nun muss er problematische Bündnisse mit mehr oder weniger Bekloppten schließen, um das Mädchen in dem offenbar multidimensionalen Gewirr wiederzufinden.
Verspielte Grundidee zwischen Magie und höherer Physik, die jedoch aufgrund ihrer Anlage haarscharf an völliger Beliebigkeit vorbeischrammt. Dennoch genug, um einen wach zu halten. Man hätte es jedoch ahnen können: Der Schluss weigert sich, erschlossen zu werden. Offenbar ist die Sache auf Fortsetzung angelegt, so dass die unmittelbare Handlung zwar zu einem Endpunkt gelangt, der ist jedoch reichlich kryptisch, und jedwede Erklärung des zugrunde liegenden Geschehens von 1961 bleibt auch aus. Fauler Zauber.
Die Grundidee hätte einer anderen Ästhetik bedurft, um einem wirklich ein Gefühl zu vermitteln, worum es geht. Das jedoch hätte das Publikum zu sehr an den Eiern gepackt. Wer das hier mit David Lynch vergleicht, hat dessen Strukturen, Drehbücher und Bildsprache nicht begriffen. Bei Lynch (und anderen seines Schlags) ist von Anfang an klar, dass man auf wackeliges Terrain geführt wird und Auflösungen entweder nicht stattfinden oder anders als sonstwo ausfallen. Das verschwundene Zimmer verkörpert natürlich dieses Sonstwo, indem es sich einer braven, billigen, reizlosen US-TV-Ästhetik bedient und wackeren US-Fernsehschauspielern. Der Plot verläuft trotz seiner naturgegebenen Sprunghaftigkeit und der dramaturgischen Strangulation einer Heerschar von Nebenfiguren streng linear und analytisch. Das Problem ist eben, dass eine Story, die derart kriminalistisch-analytisch aufgebaut ist, alle paar Minuten neue Enthüllungen auftischt und auf einen Höhepunkt zusteuert, diesen dann auch liefern müsste, statt das eigene wirre Garn verheddert liegen zu lassen.
Der Fluch der Fortsetzung: Es gibt noch Erklärungsbedarf? Schauen Sie sich an, wie’s weitergeht, und beachten Sie bitte die Kaufempfehlungen unserer Werbepartner! Anders ausgedrückt: Ätsch, Sie haben gerade fünf Stunden Lebenszeit verschwendet, weil wir Sie drangekriegt haben. Mann, sind wir clever! Ach ja, der Sender hat uns die geplante Fortsetzung übrigens gestrichen. Können wir schließlich nichts für, werfen Sie uns also nicht vor, wir hätten die Moral von Hütchenspielern.

Danach haben wir noch Der Duft der Frauen geguckt. Nach diesen ganzen Seriendarstellern ist Al Pacino als blinder Tangotänzer eine gottgleiche Offenbarung, aber hat schon mal jemand festgestellt, dass der heilige Philip Seymour Hoffman in jungen Jahren eine echte Overacting-Knallcharge war?

Samstag, 5. April 2008

Royal (oder Gloria)

Im Royal (oder Gloria) bekam man nachmittags oft Vorschauen aufs Nachtprogramm zu sehen. Nicht die ganz harten Siebziger- oder Frühachtziger-Schwinger, eher so was wie Madame Claude und ihre Gazellen oder Katharina – die nackte Zarin oder Sechs Schwedinnen im Internat. Die Zarin fand ich persönlich ziemlich unattraktiv, und ich wusste damals echt nicht, wer sich mit der bitteschön neunzig vergnügte Minuten gönnen sollte. Interessant hingegen, weil überaus rätselhaft war die Sequenz aus einem Schwedinnen-Film, in der eine der angeblichen Schwedinnen Fahrrad fuhr und dabei irritierend lustvolle Geräusche von sich gab. Dann sah man, dass an der Mechanik des Rads eine zusätzliche, vertikale Stange befestigt war, an der sich wiederum ein Gummipimmel befand, der sich durch Pedaltreten hob und senkte und durch ein Loch im Fahrradsattel die höschenfreie angebliche Schwedin unsittlich berührte, um nicht zu sagen penetrierte. Für mich damals komplett rätselhaft, wie man auf so was kommt. Ich war Messdiener, herrje.
Das Drollige war, dass man solche Vorschauen mitunter auch vor völlig unverdächtigen Bud-Spencer- oder Dudu-der-Wunderkäfer-Filmen zu sehen bekam. Die älteren Kinder kicherten schon wissend, die jüngeren schauten sich nur verständnislos an.

Das Ende

Da ich auf dem Dorf wohnte, in der Stadt zur Schule ging und die Busverbindung sporadisch war, musste ich oft die Nachmittage totschlagen und ging ständig ins Kino. Es wird wohl 1982 gewesen sein, als ich im Trierer Matinee-Kino Royal (oder hieß es damals noch Gloria?) John Carpenters Das Ende schauen wollte. Aus der Zeitungsanzeige ging nicht hervor, welche Altersfreigabe der Film hatte, also fuhren mein Vater und ich tags zuvor, nachdem wir eine Erledigung erledigt hatten, am Kino vorbei, um vor Ort nachzuschauen. Ich hatte nämlich kurz vorher in einem anderen Kino bei der Wiederaufführung von Mad Max ein ungutes Erlebnis gehabt, und mir bravem Dorfjungen ging gewaltig die Klammer. Die Kartenabreißerin hatte sich geweigert, mich einzulassen. Ich war zu jung, und sie zitierte sogar den Geschäftsführer herbei. Ich kam dann doch rein, nachdem der Geschäftsführer den Tonfall verschwörerisch gesenkt und zwei-, dreimal über die Schulter geblickt hatte. Der Grund: Ich besaß eine „Ehrenkarte“ der Tageszeitung, die das Kino der Anzeigenabteilung und deren Mitarbeitern überlassen hatte. Mein Vater staubte sie des Öfteren für mich ab, und ich kam im Atrium meistens umsonst rein und wurde sogar in die scheißteure Loge gedrängt. Ein Logenplatz war für die städtische Elite, für die VIPs, die Pfeffersäcke. Er kostete acht Mark, und man kam sich vor wie was Besseres. Cool. Bei Mad Max hatte es nun zum ersten Mal Ärger gegeben, und ich war traumatisiert.
Das war jedoch im gestrengen Atrium, nicht im Royal. Dort war die Moral bekanntlich lose (es wurden dort zu später Stunde, hüstel, Pornos gezeigt), dennoch wollte ich auf Nummer Sicher gehen, um nicht umsonst da hinzulatschen. An der Kasse gab es einen Schieberegler, mit dem die Altersfreigabe des jeweiligen Films eingestellt werden konnte. Hinter der Kasse saß eine uralte Hutzeloma, die auch gleich als Kartenabreißerin fungierte. Über ihr am Schieberegler war für Das Ende „ab 18“ eingestellt, und ich dachte: blöd. Wir fragten bei Oma noch mal nach, sie schaute nach oben, griff sich ein Lineal und schob den Regler eine Position zurück. „Nee, ist ab 16“, meinte sie, ohne uns anzusehen. Ich war beruhigt, wir gingen wieder, und beim Rausgehen sahen wir, wie sie den Regler wieder auf 18 schob.
Ich wagte es dennoch. Am nächsten Tag stand der Regler immer noch auf 18, aber der Oma war mein zartes Alter von 15 völlig egal. Die war so alt, für die gab es da keinen Unterschied. Wenn man nachts fürs Pornopublikum die Karten abriss, und das vierzig Jahre lang oder so, dann war einem vermutlich ohnehin alles schnurz. Dann hatte man alles gesehen, und 15jährige, die in Filme ab 18 wollten, waren das geringste Problem. Sie fragte sich wohl eher, ob sie heute nach der Nachtvorstellung Meister Proper oder doch besser Domestos benutzen sollte, um die Sitzlehnenrückseiten sauber zu kriegen.
So kam ich weit vor der Erlangung der Volljährigkeit also in den Genuss von Carpenters jugendgefährdendem Frühwerk.
2005 hat Hollywood Assault on Precinct 13, wie Das Ende richtig heißt, neu verfilmt. Den haben wir uns gestern Abend mal reingepfiffen. Ich mag keine Franzosen auf Action-Regiestühlen. Das Remake ist dementsprechend mittelmäßig und hat zu viel Handlung, weswegen die Unmittelbarkeit und der Schock-Faktor verloren gehen. Positiv: Laurence Fishburne ist cool, und es gibt ein Wiedersehen mit dem großen Brian Dennehy, der seit Rambos erstem (und soweit es mich betrifft einzigem) Auftritt kaum gealtert scheint. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Ach so, ja, der Mord an Maria Bello ist ziemlich fies, einfach deshalb, weil man an Klischees gewöhnt ist und glaubt, nein, der macht die jetzt nicht kalt. Macht er doch.

Donnerstag, 3. April 2008

The War

Obwohl es wahrscheinlich schon ein bisschen spät dafür ist, sollte noch hingewiesen werden auf die US-Dokumentation The War von Ken Burns, die zurzeit auf Arte läuft. Ein 14-Teiler, den der Sender mittwochs als Doppelfolgen ausstrahlt.
Ken Burns hatte sich schon mal dem Amerikanischen Bürgerkrieg gewidmet, mit einem Wunderwerk an historischer Präzision und für die meisten Europäer verblüffend kompliziert, jetzt hat er den Zweiten Weltkrieg unter die Doku-Lupe genommen. Aus amerikanischer Sicht wird aufgearbeitet, was wann, wie und warum passiert ist. Gekoppelt ist das an vier amerikanische Provinzstädte, an deren Bevölkerung zu Hause, hauptsächlich aber an die „Söhne“, die im Pazifik und in Europa an den Fronten kämpften. Aus der Perspektive von unten entsteht ein konsequentes, personalisiertes Kaleidoskop, das nicht unsentimental ist, jedoch völlig frei von hohlem Pathos oder den Amerikanern so gern vorgeworfenem Zentrismus und Heroismus. Das Bildmaterial ist spektakulär und geht oft bis an die Grenze des Erträglichen. Die Berichte der Zeitzeugen erschüttern, ihre Briefe sind zutiefst bewegende Quellen, und die Formulierungen der literarisch hochwertigen Tagebücher des Marineinfanteristen Eugene Sledge verfolgen einen bis in den Schlaf. Vieles von all dem ist in Europa ohnehin völlig unbekannt. An anderen Stellen werden erschreckende Relationen zwischen dem Bekannten aufgezeigt.
Es ist eine mustergültige erzählerische Herangehensweise, die höchstes Lob verdient – und natürlich eine Publikation als DVD-Box. Der Tonfall wird mit zunehmender Länge des Krieges immer trauriger, die Kritik schärfer, die Bilder konsequent grausamer, die Veteranen in den Interviews verbitterter, ihre Einschätzung oft unverhohlen pazifistisch. Man entwickelt großen Respekt vor diesen alten Herren und der Menschlichkeit, die sie sich bewahrt oder gerade aus diesen Erlebnissen heraus entwickelt haben.
Es ist ein Abgrund, ein Fleischwolf, und doch nur ein Ausschnitt aus einem viel schlimmeren Ganzen. Vielleicht sollte man Dr. Guido Knopp in Rente schicken und Ken Burns damit beauftragen, die Dinge auch mal aus deutscher Sicht anzugehen.