Montag, 31. Dezember 2012

Of the Sun and Moon

Ziemlich rückverliebt in dieses Album von 1986. Eigentlich hatte ich dem reinrassigen Heavy Metal abgeschworen, aber vielleicht hat die Rückkehr dahin mit dem Alter zu tun. Vielleicht braucht man wieder mehr Pathos und Verschwurbelung, mehr Überzeitlichkeit, mehr großes kosmisches Theater statt die Teilnahme an der Selbstbeschau jüngerer Pop- und Rock-Generationen, die einen schlicht nicht interessieren.
Die Platte kaufte ich damals in Koblenz, während eines kurzen Bundeswehr-Urlaubs. Ich entsinne mich an großes Kritikerlob in den Schwermetall-Gazetten, allerdings gab es wohl kaum Abverkäufe. Es tummelten sich 1986/87 einfach zu viele Bands im frühen ProgMetal und wurden von Queensryche und Fates Warning übertönt. Es blieb bei diesem einzigen Album der kanadischen Band Sacred Blade: Of the Sun and Moon. Heute ist es einigermaßen obskur, wird aber von Standhaften als eines der besten Metal-Alben der 80er kultisch verehrt, besonders in Deutschland. Und diese Leute haben, soweit ich das beurteilen kann, absolut recht.
Ich mochte natürlich den durchs kosmische Dunkel galoppierenden Power Metal auf Sabbath-Pfaden, aber auch den spacigen Zugang, die epische Breite, die harmonische und melodische Qualität, die unerwarteten Breaks und jazzigen Stilwechsel, den typisch kanadischen Prog-Anteil, die hawkwindesken Päuschen, das Gefrickel und das Eigenbrödlertum. Schwerer und gedankenvoller als andere Metal-Bands, kosmische SF-Kunstmythologie statt Weltuntergangsphrasen, Horror-Trivialitäten und Gothic-Kitsch. Literarisch, melancholisch, mysteriös und dazu da, ihm auf den Grund zu gehen. Der Schlussteil, das achtminütige Instrumental „Moon“, gehörte ohnehin stets zum Schönsten, was der Metal der 80er angerichtet hat.
Fast zwanzig Jahre später öffnete Blade-Chef Jeff Ulmer mit seinem neuen Projekt Othyrworld die Archive und spielte neben neuen Stücken auch altes Material ein, so dass das Album Beyond Into the Night of Day zu einem erweiterten Remake geriet. Es wurde abseits der Industrie und neben den herkömmlichen Vertriebswegen losgelassen. Perfektionist und Universalist Ulmer wollte unabhängig bleiben und hatte keine Lust, sein Talent kommerziell zu verwerten. Das macht den Kauz glatt sympathisch.

Jahresrückblick

Das Jahr begann unerfreulicherweise mit einem Januar und mit den Abbuchungen diverser Versicherungs- und Steuerbeträge. Da war der Monat auch schon wieder rum. Der Februar war ein bisschen kürzer und blieb durchweg ereignislos. Der März fiel zum großen Teil der Frühjahrsmüdigkeit zum Opfer. Im April erschien ein neues Hawkwind-Album. Der Mai kam, winkte durchs Fenster und ging wieder, der Juni machte auch diesmal großen Spaß. Im Juli schnitt ich mich böse beim Aufreißen einer DVD-Verpackung, und mir musste die linke Hand amputiert und gegen einen Walfischknochen ausgetauscht werden. Der August war irgendwie ziemlich warm, wenn ich mich recht entsinne. Das traf sich gut, denn unsere Heizung war gerade kaputt. Im September erschien ein Ford-Werbespot mit Hawkwind-Musikuntermalung. Im Oktober hatte ich schon wieder Geburtstag, und jemand setzte mir einen albernen Papphut auf. Im November erschien ein weiteres Hawkwind-Album, und im Dezember endete die Welt entgegen aller Erwartungen nicht, obwohl ich drei Tage zuvor begonnen hatte, richtig lauten Retro-Weltuntergangs-Metal aus den 80ern zu hören (Metal Church, Savatage, Manilla Road). Damals war die Welt aber auch nicht untergegangen, was nur logisch ist, denn sonst hätte es ja dieses Jahr gar nicht gegeben. 
Konservative Kreise behaupten, das neue Jahr beginne diesmal wieder mit einem Januar, was bedeuten würde, dass erneut diese unerfreulichen Abbuchungen anstehen.

Montag, 24. Dezember 2012

Samstag, 22. Dezember 2012

Spenden

Advent. Die hohe Zeit des Spendenwesens. Bisher wurden an der Wohnungstür vorstellig: Obdachlose ohne Obdach e.V., Iranische Exilanten e.V., Initiative Ohne Rauch Geht’s Auch, Initiative Ohne Rauch Geht’s Kaum, Anonyme Apokalyptiker (ohne Ausweisschild um den Hals, da anonym), Seemann ohne Schiff, Atheistenverband Brainwash e.V., Kommando Spezialkräfte, Stuttgarter Parkschützer in Köln e.V., Veteranenverband der Tamilischen Tiger, Bund gegen das Abschmelzen der Gletscher, Raucher retten Robben, Robben retten Wale, Zeugen Siddhartas, Piloten mit Flugangst e.V., Kirche der Heiligen Platzpatrone von Padua, Chinesische Exilanten e.V., Interessengemeinschaft zur Beschleunigung der Kontinentaldrift, Bund gegen Lepra auf Bali sowie Bund für Lepra auf Bali. 
Die beste Methode, die Sache kurz zu machen und nicht doch noch ins Grübeln zu geraten: Einfach sagen, man sei schon Mitglied. Dann freuen sie sich und gehen eine Tür weiter.

Freitag, 21. Dezember 2012

Abwarten und Phoenix schauen

Na ja, ich warte dann einfach mal ab und lasse Phoenix laufen. Asteroid? Oder Flutwelle? Oder doch Erdbeben? Eine Magmakammer? Eifelvulkane? Die Virus-Epidemie? Ein Schwarzes Loch? Eine Invasionsstreitmacht vom Echsenplaneten Hrrr? Gar ein nordkoreanischer Atomsprengkopf? Ist apokalyptisches Galoppel auf der Straße zu hören? Gibt es Kartoffelfäule? Oder den Koalitionsbruch in Berlin? Oder doch einen Wasserrohrbruch? Oder bricht mir der Schlüssel in der Haustür ab? Ist der Kaffee alle? Fällt der Typ aus dem 1. OG mit einem Stapel Teller die Treppe runter? Oder steigt aus dem sumpfigen Keller ein alter Gott hervor und keckert irre? 
Alles ziemlich unkonkret, ist ja aber noch früh.

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Linsensuppe mit Würstchen

Ich habe das Angebot des leicht paranoiden Eifeler Bundeswehrkameraden abgelehnt, ab morgen den Weltuntergang in seinem selbstgebauten Bunker auszusitzen. Die Räumlichkeiten habe ich besichtigt, und es war gar nicht so übel: Digital-TV, Stromgeneratoren, ein Riesentank mit Diesel, autonome Wasserversorgung aus Tiefbrunnen, Erdwärme, ansprechende Sanitäranlagen. (Sein Kumpel arbeitet bei „Fliesen Hochschneider“ in Daun, und er kriegt Prozente.) Eine drei Meter dicke Bodenplatte aus Blei gegen aufsteigendes Magma. Eine liebevoll ausgestattete Hauskapelle mit Kreuzgratgewölbe. Eine gutbestückte Bibliothek, hauptsächlich Bücher, die er sich von mir ausgeliehen und nie zurückgegeben hat. Sollbruchstellen bei Erderschütterungen, Geigerzähler, Sicherheitsschleusen, Infrarot-Bewegungsmelder, Katzenstreu, ein eigener OP. (Seine Cousine arbeitet bei einer Krankenkasse und hat Kontakte.) Eine voll ausgestattete Schnitzwerkstatt für Thüringer Pfeifenmännchen, ein drei Meter hoher Stapel mit Laubsägemustern sowie diverse Kreativ-Bastel-Sets (Macramee, Specksteine u.a.). Selbstverständlich diverse Schusswaffen mit Hohlspitzmunition sowie ein voll funktionsfähiges U-Boot-Deckgeschütz. WLAN ist relativ schlecht so weit unter der Erde. Aber Bierdosen hat er palettenweise, und Böller für Silvester. Ein bisschen skeptisch gemacht haben mich die ganzen Erotikhefte, aber der Mann ist ja Single. 
Was mich das Angebot aber hauptsächlich ausschlagen ließ, war das höchst einseitige Nahrungsmittelangebot in Konservenform: „Linsensuppe mit Würstchen“. (Sein Neffe ist Azubi bei Erasco in Lübeck, und er kriegt Prozente.) Es war ohnehin schon stickig in dem Bunkersystem – zu viele Filter eingebaut, sagt er –, aber wenn die Besatzung erst mal fünfzehn Jahre lang von Erasco-Linsensuppe gelebt hat, dann wird das nicht unbedingt besser da drin, und die Postapokalypse beginnt zu miefen. Und irgendwann wird der Methangehalt der Luft so hoch sein, dass, wenn ich mir morgens die erste Fluppe anzünde, der ganze Komplex sich dem feurigen Weltuntergang doch noch anschließt.

Donnerstag, 13. Dezember 2012

Brotscheiben

Sie: „Warum hast du die Brotscheiben so dünn geschnitten?“ 
Er: „Stalingrad-Gedächtnis.“ 
Sie: „Ach, ist es wieder so weit?“ 
Er: „Ja, siebzig Jahre glatt.“ 
Sie: „Aber du gehst doch heute nicht wieder mit Fußwickeln vors Haus?“ 
Er: „Mal sehen.“ 
Sie: „Und duck dich nicht immer vor jedem Fenster. Sieht blöd aus.“ 
Er: „Häuserkampf. Aufrecht gehen ist das Todesurteil.“ 
Sie: „Na ja. Aber grab dich diesmal hinterm Haus ein. Nach vorne gucken die Nachbarn komisch. Und kein Scherenfernrohr. Letztes Jahr ist der Hausmeister drüber gestolpert und in deinen Schützengraben gefallen.“
Er: „Ja, war ein Kampf Klappspaten gegen Kehrbesen.“ 
Sie: „Und beschieß nach Schulschluss nicht wieder die Schüler, wenn sie hoch zur Straßenbahn gehen.“ 
Er: „Vierzehnjährige können Waffen genauso gut bedienen wie Vierzigjährige.“ 
Sie: „Ach bitte. Die erschrecken sich immer so, wenn du diese Geräusche machst …“ 
Er: „Acht-Achter. Kabautz.“ 
Sie: „Wie auch immer. Und verzichte bitte auf die Panzersperre. Der Vermieter mag es nicht, wenn die Feuerwehrzufahrt blockiert ist.“ 
Er: „Na gut.“ 
Sie: „Und kannst du die CD mit dem Kreischen von diesen Dingern …“ 
Er: „Stalin-Orgeln.“ 
Sie: „Kannst du die Stalin-Orgel-CD bitte über Kopfhörer laufen lassen?“ 
Er: „Ungern.“ 
Sie: „Bitte. Mir zuliebe. Und renn bitte nicht fahrenden Autos hinterher, um aufzuspringen.“ 
Er: „Ich muss aber aus dem Kessel raus.“ 
Sie: „Dann geh runter zur Haltestelle und nimm den Bus.“

Sonntag, 9. Dezember 2012

Traumwelt

Noch eine kleine Erinnerung an den verstorbenen Huw Lloyd-Langton. Der eskapistischste Song aller Zeiten, eine Art Umwelt-Fantasy, das buchstäbliche Abtauchen in eine langsame, schwebende, geräuschverstärkende Meerestraumwelt voller Lichteffekte, Strömungen und seltsamer Viecher. Eine punkig verzerrte Rhythmusgitarre, Drum-Variationen und einige brüllend laute Samples sorgen dafür, dass es nicht allzu entspannend wird. Musik und Effekte von Dave Brock, Text von Robert Calvert. Das Schlagzeug auf diesem Track spielt der 2004 verstorbene New Model Army-Drummer Rob Heaton, der damals kurz aushalf. Die wunderbar einschmeichelnde Lead-Gitarre, die kurz vor 3:00 einsetzt und bis zum Schluss um das Grundmotiv herumscharwenzelt, stammt von Lloyd-Langton.  
Dies hier ist die beste Version des Stücks, erschienen 1984 auf der EP The Earth Ritual Preview. Brock hatte ein Jahr zuvor auf seinem Solo-Album Earthed To The Ground bereits eine Rumpffassung geliefert, 1994 gab es noch eine Live-Version und 2011/12 ein Remake. Alle diese anderen Versionen kranken daran, dass Huw Lloyd-Langtons Lead-Gitarre nicht dabei ist.

Freitag, 7. Dezember 2012

R.I.P. Huw Lloyd-Langton

Das Habicht-Universum flaggt halbmast, und die einschlägigen Foren und Habichtnester rund um die Welt fließen über vor Trauer. Huw Lloyd-Langton ist tot. Einer der Besten, Einflussreichsten, Freundlichsten und Uneitelsten ist gegangen.
Er war Lead-Gitarrist auf dem allerersten Album und dann noch mal von 1979 bis 1988, ehe er sich auf Gastauftritte verlegte. Huwie ist einer der beliebtesten Musiker des Hawks-Kontinuums, ein pfeilschneller Space-Gitarrero, der meiner Meinung nach seine absolute Sternstunde auf dem Album Levitation (1980) hatte, als er mit Virtuosen wie Ginger Baker (Drums) und Tim Blake (Keyboards) in Wettstreit treten durfte. In den Achtzigern war er als Songwriter zuständig für die melodische, teils auch jazzrockige Seite des Hawkwind-Kontinuums. Ein weiteres festes Engagement 2000/01 scheiterte an seinem angegriffenen Gesundheitszustand. Überhaupt meinte die Gesundheit es nie gut mit ihm. Nach Legionärskrankheit, Nierenversagen und diversen Knochenbrüchen holte ihn nun der Krebs mit 61 Jahren. Er sah in der letzten Dekade krankheitsbedingt schon nicht mehr sehr frisch aus, quälte aber immer noch die Saiten wie ein junger Gott.
Seine zahlreichen Soli kann ich allesamt auswendig spielen – auf der Luftgitarre. Er hatte Saft und Strom, spielte aber auch einige der zärtlichsten Gitarrenfiguren, die ich überhaupt kenne. Auf dem Titelsong von Levitation gibt es diese eine Stelle, auf der seine Gitarre sich anhört wie unsere Katze, wenn sie sich beschwert. Oft ließ er die Saiten auch Möwenschreie nachahmen, und er verwendete immer gern diesen einen pfeilschnellen Schnörkel, mit dem er Retro-Computergeräusche aus SF-Filmen imitierte. Der Akustikgitarren-Part aus „The Fifth Second of Forever“ aktiviert bei mir bis heute umgehend das Dimensionstor im Kopf und befördert mich auf einen fremden Planeten. Seine immer etwas heiser klingende Stimme passte zu der Melancholie seiner Melodic-Rock-Songs.
Er war mir ein treuer Begleiter seit 1982, als ich die erste Hawkwind-Platte kaufte. Unlängst, auf Onwards, trat er noch mal als Gast in Erscheinung und wärmte mein kaltes, altes Herz.
Jetzt stromert er garantiert mit seiner Klampfe durch die Träumende Stadt.

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Sechs bis siebzehn, mindestens jedoch acht

Dicken Kopp heute Morgen. Habe mich vorerst arbeitsunfähig geschrieben. Denn unlängst habe ich im Veedel nach Jahren den cineastischen Ex-Nachbarn wiedergetroffen. Mit Söhnchen. Haben uns dann für gestern Abend verabredet. Ohne Söhnchen. Es waren dann so zwischen sechs und siebzehn Kölsch pro Mann, mindestens aber acht, im Stehen am Brauhaus-Ausschank und mit einer besonders skrupellosen Köbes-Frau. Ich bin das nicht mehr gewohnt, aber es war angemessen bei den ausführlichen Diskussionen über Rush-Platten, die schwierige Klassifizierung von Spielberg-Werken und diese Art von Filmen, in denen die Leute hierhin und dorthin gehen.
Auf dem Rückweg musste ich auf dem Grünstreifen dezent ins Gebüsch, und danach schlenderte plötzlich ein „griechischer Jude aus Zypern“ neben mir, ein rauschebärtiger, reisender Straßenmusikant mit über den Rücken geschlungenem Akkordeon, und brachte mir in einem nächtlichen Redeschwall seine Zivilisationstheorie zu Gehör: Alle Kulturvölker, so meinte er, wanderten irgendwann nach Norden. Erst die Griechen, dann die Römer, und in zwanzig Jahren werden alle Europäer in Grönland leben – denn da ist ja dann das ganze Eis weg. Wir gingen derweil jedoch Richtung Süden, wie mir auffiel, aber ich verschwieg es und nickte bloß. Er verknüpfte das alles dann noch mit einer recht kleinteiligen anarchistischen Staatstheorie, die mir in dem Moment relativ egal war. Ich hatte sechs bis siebzehn Kölsch intus, mindestens jedoch acht. Ich bemerkte lediglich, dass er trotz geringen Autoverkehrs zur Nachtstunde an jeder roten Fußgängerampel diszipliniert stehen blieb und mich nicht nach Geld, nicht nach Zigaretten und nicht nach einem Schlafplatz fragte. Anarchisten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.

Montag, 3. Dezember 2012

Stellar Variations

Das „Stellar Variations Project“ war seit dem Frühsommer in Habicht-Kreisen angekündigt, aber es blieb vorerst unklar, um was genau es sich dabei handelt. Dann kam die Aufklärung: Im letzten Winter waren die drei nahe beieinander wohnenden Bandmitglieder Brock, Chadwick und Hone eingeschneit, drehten Däumchen, flochten sich womöglich Strähnen ins graumelierte Haupthaar oder ritzten ihre Initialen in Tischplatten. Als das langweilig wurde, verlegten sie ihre Tätigkeiten in Brocks gut beheiztes Earth Studio, einem ehemaligen Kuhstall, um ein bisschen mit neuen Ideen herumzuspielen. Die beiden anderen Mitglieder Dibs und Blake wohnten zu weit weg, um durch die Schneemassen zu diesem improvisierten Treffen hinzustoßen zu können. 
Solche relevanten Seitenprojekte und Baustellenalben, die früher oder später in der offiziellen Diskographie landen, haben Tradition seit 1977. Sonic Assassins, Hawklords, das Church of Hawkwind-Album von 1982 und in den 90ern die Psychedelic Warriors mit ihrem Techno-Output. Nun also Stellar Variations vom sogenannten Hawkwind Light Orchestra. 
Es soll ein Seitenprojekt sein, und so hört es sich auch durchaus an. Eine offizielle Platte wäre vermutlich geschlossener, nicht so offen, nicht so montiert. Electro-Power-Rock-Jazz mit perkussiver Größe, schwerem, flexiblem Bass, zurückhaltend gemischtem Gitarren-Geriffe, einer irrsinnigen Fülle an Effekten und Geräuschen und Spoken-Word-Proklamationen: Stellar Variations braucht ein paar Durchgänge in unterschiedlicher Lautstärke, ehe man es durchsteigt. 
Mit dem Opener „Stellar Perspective“ deutet sich erstmal eines der üblichen Jam-Massaker an, denn da kommt ein Crossover angerummst, dem sogar verzerrter Metal-Rap zugefügt wird. Es bleibt minutenlang sehr druckvoll, ehe es nach hinten raus in überraschend jazzige Texturen ausfasert. Die Hawks hatten immer einen Sinn für den Opener, und das hier ist einer, jawohl.
Jazzig geht es weiter im einschmeichelnden, daherschwebenden „All Our Dreams“, das sich nach kurzer Zeit in eine Collage aus scharf gegeneinander abgegrenzten Synthie-, Sequencer- und Sample-Passagen verwandelt. Der Powerrock von „It’s All Lies“ erweist sich songwriterisch als recht banal, wohingegen „Variation 3“ wieder diesen unberechenbaren Space-Jazz auffährt und die Umwelt-Hymne „Four Legs Good Two Legs Bad“ hauptsächlich lustig gerät. Das epische „In the Footsteps of the Great One“ nutzt die Elric-von-Melniboné-Lyrik aus den Mittachtzigern, um eine rauschhafte Spoken-Word-Fantasy-Erzählung mit starkem Ethno-Anteil und angerissenen Choralgesängen zu erzeugen. „A Song for a New Age“ ist tatsächlich ein ausgearbeiteter Song – geschmackvoller Melodic Rock mit Drummer Richard Chadwick als Sänger –, genauso wie das treibende, schier überbordende „Instant Predictions“. Neben dem Opener erweisen sich jedoch „We Serve Mankind“ und „Cities of Rust“ als Höhepunkt des Albums: Sie haben den dunklen Hawks-Jam-Drive und diese typischen, immer wieder verblüffenden Brüche zwischen Härte und Weichheit. Glimmende Juwelen eines hochmodernen Spacerock. 
Stellar Variations ist der geschmackvolle musikalische Bericht über eine Entdeckungsreise hinter die Gasnebel. Stilistisch ein bisschen holprig und brüchig vielleicht, aber das ist kein Wunder bei dem, was es da alles zu entdecken gibt.

Samstag, 1. Dezember 2012

Blick zurück in Wohlgefallen

Angesichts des Rush-Konzerts Mitte nächsten Jahres bin ich noch mal über die ganzen Alben gehechtet. Das habe ich nämlich schon sehr lange nicht mehr getan. 
Relevant bleiben jene Platten, von denen ich auch schon vorher wusste, dass sie relevant bleiben würden: Es sind die vier aufeinanderfolgenden LPs der ersten Achtziger-Hälfte. Jene Umbruch- und Transformationsphase, in der das Trio sich in der Epoche umsah, sich auf globaler Ebene relevant machte und auch auf unserer Seite des Teichs Jungmänner zu beeinflussen begann. Es ist die Phase, die mir und meinen Altersgenossen in die DNA geschrieben wurde. Wir waren zufällig gerade da und erreichten das Alter, in dem wir ermittelten, wer stellvertretend für uns die Dinge ausformulieren durfte, jene schwierigen Sachverhalte, die wir zwar fühlten, aber noch nicht so recht zu artikulieren wussten. Rush waren die global denkenden, libertären Humanisten dieses Lebensalters. Und die vier aufgeräumten, unendlich virtuosen LPs rühren einen heute fast noch mehr als damals:

Permanent Waves (1980) 

Davor, ab 1975, fabrizierte Rush eher so einen elaborierten Pseudo-Progressive-Hardrock aus Phantasien, für meinen Geschmack viel zu großspurig, verschwurbelt, behauptet tiefsinnig und dabei nie abgespaced genug. Die erste Textzeile von Permanent Waves hingegen lautet einfach nur: „Begin the day with a friendly voice“. Und der Hit-Song „Spirit of Radio“ kommt bewundernswert direkt zur Sache, der Text wendet sich gegen das Formatradio und gerät ein bisschen arg selbstgefällig, aber das ist Hochenergie-Musik, Hardrock ohne Wenn und Aber, und nach hinten raus macht er allen Ernstes auf Reggae. Rush sind in unserem Raumzeitkontinuum angekommen. Und so geht das munter weiter auf der Platte. Zum Beispiel auf dem Melodic-Rocker „Freewill“. Mit diesen straighten Dingern zeigen Lee/Lifeson/Peart viel eher, was sie draufhaben, als auf überambitionierten 20minütigen Rock-Suiten über Apollo, Dionysos und irgendwelche mystischen Tempel auf dem weltfernen Nerd-Planeten. Okay, weiter hinten auf Permanent Waves gibt es auch so sperrige Progressive-Klöpse wie „Jacob’s Ladder“ und „A Natural Science“, aber selbst die sind irgendwie melodiöser als früher.
Supervitales Rockalbum mit total einmaligem, damals prägendem Crossover-Stil.


Moving Pictures (1981)

Nonplusultra. Die Platte fängt an mit Rushs bekanntestem Song, „Tom Sawyer“, der mir damals auf der Heiligen Stereoanlage das Oberstübchen neu verkabelt hat. Seitdem achte ich bei Rocksongs immer zuerst auf den Drummer. Zum geheimen Lieblingsstück entwickelte sich aber kurz darauf „Red Barchetta“, die anheimelnde, automobilfreundliche Geschichte vom über die Landstraße rasenden Onkel. Musikalisch allererste Sahne und stärker denn je mit diesen Ska-Rock-Akzenten. Das Instrumentalstück „YYZ“ wird zum Inbegriff Rush’scher Virtuosität und kokettiert mit dem Jazzrock, bis es funkt. Danach haben wir noch drei Rocker, einer davon gar düsterlich („Witch Hunt“), einer Ska, sowie einen letzten Restbestand der verteufelt progressiven 70er.
Eine unerreichte Ansammlung von lebensbejahenden Stimmungen und fest ineinander gedrehten Stilrichtungen. Wave-Rock geradezu, Betonung natürlich auf Rock.


Signals (1982)

Es geht so richtig los mit den Keyboards. Das mochten damals nicht alle. Geddy Lee hat sich mächtig weitergebildet an den Tasten und stellt sie in den Vordergrund. Aber er tut das geschmackvoll und degradiert seinen Gitarrenkumpel Alex Lifeson (noch) nicht vollends zum Statisten.
Das Überzeugende an Signals ist aber (neben dem Cover) das Songmaterial, eine Abfolge von Höhenflügen melodischen, teils elegischen Rocks, der sich anders – hibbeliger – artikuliert als der Rest der Epoche. Die Melodien machen immer einen Schlenker mehr, die Rhythmen ziehen an und lassen gehen. Dazwischen die faszinierenden Klangfarben des notorischen Crossover. Man hörte damals so etwas in den Charts, ja, aber nie, niemals in dieser Kombination. 
Ewige Favoriten: „Subdivisions“ und „The Analog Kid“. Wunderwerke.


Grace Under Pressure (1984)

Technokratisches Hit-Album. Wurde damals überall herumgereicht. Mehr Elektronik denn je, Peart spielt sogar Synthie-Drums. Weite Keyboardflächen, allerdings immer noch in Balance zur Gitarre. Ein würdiger Nachfolger von Signals in Sachen Songwriting. Anziehen, loslassen, verzwirbeln, über die Grenzen hinausziehen und doch zugänglich halten. Aus einem einzelnen Rush-Song machen andere Bands eine ganze Platte. Geheimfavorit: „The Enemy Within“. Was für ein Drive!
Das wirklich Bleibende an diesem Album ist seine düstere Kalter-Krieg-Stimmung, sein alarmistischer Charakter und der fast ungläubig wirkende Zustand zwischen Empörung und Trauer. Für mich fängt kaum ein Rockalbum die Epoche so ein wie dieses. Ein Song wie „Between The Wheels“ sollte zur eigentlichen Hymne der Achtziger erklärt werden, nicht diese hirnverbrannten 99 Luftballons.
Danach wurden Rush mit Alben wie Power Windows und Hold Your Fire leider, leider zum 80er-Designer-Rock.

Donnerstag, 29. November 2012

Event

Auf dem Rückweg vom Marina-Konzert und im popkulturellen Überschwang gab es dann noch eine Entdeckung in Form eines Plakats. Rush in Köln? Am Geburtstag der Gattin? Die Gattin sagt: Ja! Gehen wir hin! 
Ich bin ja nicht mehr der allergrößte Fan – das war Mitte der 80er –, aber immerhin nehme ich den neugewonnenen Härtegrad der jüngeren Alben wohlwollend zur Kenntnis. Und als Event ist das sowieso unschlagbar. Es wird mein zweites Rush-Konzert. Das erste war 1988 in Frankfurt, ich stand in einem Pulk von langhaarigen Freaks mit Iron-Maiden- und Judas-Priest-Kutten und war Teil von etwas Wahrhaftigem.
Gefrickel! Virtuosität! Technokratismus! Power! Phonzahlen! Superschneller Bass! Bester Schlagzeuger der Welt! Gleißende Gitarre! Schlenkernde Melodielinien! Riesenshow! Bildungshorizont! Weltbürgertum! Die Edel-Band, gegen die Metallica rüberkommen wie depressive Abbrucharbeiter! 
Und das Beste: Ich habe noch diesen fetten Gutschein, für den mir bisher irgendwie das angemessene Event fehlte und der mir und der Gattin soeben die besten Plätze gesichert hat.

Girlie-Pop! Apotheose!

Ha! Ich war schon so lange auf keinem Konzert mehr, dass ich gar nicht mehr weiß, welches das letzte überhaupt war. Und nun komplimentiert die Gattin mich ausgerechnet zu Girlie-Pop! Ich schlug vor, wir sollten uns eventuell irgendwo einen Teenie mieten und als unsere Tochter ausgeben, damit wir nicht so auffallen. 
Aber natürlich ist das bedenkenträgerischer Blödsinn. Marina & The Diamonds liebt uns alle. Wesentliche Teile dieser Musik gehen auf Elektropop der Achtziger zurück, und einige Anteile verweisen auf die junge bis mittlere Kate Bush. Insofern schließt sich also hier der Kreis der Generationen, was man auch am Publikum des Clubkonzerts merkt. Alle, die geliebt werden wollen, sind da.
Die Musik, diese Apotheose des Girlie-Pop, hat entschieden mehr Druck als auf den geschniegelten Tonträgern. Liegt an der engagierten Begleitband, den schweren, wavigen Basslinien, einer gelegentlichen Ska-Gitarre, einem engagierten Drummer (toll: Sebastian Sternberg) und glockenhellen Keyboards. Und natürlich an der lieben, aber ironischen Chanteuse, ihrem Stimmvolumen, ihren melodischen Höhenflügen und ihrer nachdenklichen, sarkastischen Lebensfreude. 
Gesamtkunstwerk. Hat Schmackes und macht Spaß.
Und die ersten Handyvideos sind natürlich auch schon oben. Man sollte sich ihnen und ihrem flachen Sound eigentlich verweigern, aber es bringt Farbe in dieses deprimierende Weblog-Grau, und außerdem kann ich im Moment sowieso nicht anders:  

Dienstag, 27. November 2012

Gänseessen

November ist Gänsemonat. Im „Bocksbeutel“ trägt man reichlich auf. Eine Sternstunde des Deutsch-Rustikalen, mit einer unverkennbar französischen Note. Da zittert der Magen des Grenzlandjungen in Vorfreude. Das Lokal ist äußerst schnuckelig. Wenn man die Tür öffnet, kann man kaum glauben, es vom Kölner Lindenthalgürtel her betreten zu haben und nicht von einer pittoresken Kreisstraße in der Pfalz. Die Gans ist ein Gedicht, und die Gänsehaut verursacht beim Esser selbige. 
Es ist auch keine Schande, beim Menü kurz vor Schluss zu kapitulieren. Man ist im Lokal vorbereitet auf Resteeinpacken. Diese Gans muss geehrt und von ihr muss gezehrt werden. Eine über drei Stunden geleerte Karaffe ordentlichen französischen Rosés sorgt im Nachgang für ein angenehmes Schwanken der pfälzischen Postkutsche, welche uns in Richtung Wohnstatt bringt und sich zu meiner Verblüffung irgendwann auf Höhe Zülpicher Platz als eine Straßenbahn der Kölner Verkehrsbetriebe erweist. Das Ehepaar verständigt sich darauf, dies zu einer Novembertradition werden zu lassen.

Donnerstag, 22. November 2012

Vampirbefall

Vorsicht. Irgendwo hier im Haus hat sich ein Vampir eingenistet. Der Vampir ist androgyn, aber vermutlich im Original weiblich, trägt Schwarz, fällt auf durch einen Schopf dichter schwarzer Locken, extreme Blässe und dadurch, dass er/sie auch bei anbrechender Dunkelheit eine übergroße Sonnenbrille trägt. Der Vampir klingelte neulich ganz selbstverständlich an der Haustür, und als ich nichtsahnend öffnete, ging er/sie einfach kommentarlos an mir vorbei und verschwand im Haus. Ich war zu perplex, um zu reagieren oder auch nur darauf zu achten, ob der Vampir nach oben ging oder nach unten in den Keller. 
Für den Fall, dass das die neue Nachbarin sein sollte, die mal eben ihren Schlüssel vergessen hatte, wird es langsam Zeit, dass sie sich vorstellt. Den Keller habe ich, Pflock und Holzhammer in Händen, nämlich soeben durch. Keine Hinweise auf Vampirbefall. Morgen greife ich mir zusätzlich die Brechstange und nehme mir nacheinander die Wohnungen vor. Der Pfarrgemeinderat ist auch unterrichtet.

Dienstag, 20. November 2012

Eifelkrimi

Ja, ja, ich weiß, der progressive, kreative Mensch schaut heutzutage neumodische amerikanische Fernsehserien und kauft die DVD-Boxen palettenweise. Ich hingegen bevorzuge die ARD-Eifelkrimi-Serie mit dem Beliebigkeitstitel Mord mit Aussicht. Muss man sich nicht so anstrengen als Rezipient, außerdem sind 45-Minuten-Folgen besser, als Zeit mit einschlägigen, drittklassigen Kriminalromanen zu verschwenden. 
Eine lebenslustige Kölner Kommissarin wird in die tiefste Eifel versetzt und muss sich mit systemimmanent grotesken Kriminalfällen (zuletzt: Rammlerdiebstahl), grenzdebilen Kollegen und der einheimischen Bevölkerung herumschlagen. Kurz: Die urban geprägte Dame muss erst mal entschleunigen, um dann in völlig unerwarteten Momenten zu beschleunigen und die Kriminellen zu verwirren. Die eigenen Kollegen allerdings meistens auch. 
Okay, die Eifel ist in der Serie eher eine Behauptung und sieht strukturell so aus, wie Kölner Drehbuchautoren sie vom Wochenendtrip kennen oder sich in ihren Kreativen-Veedeln so vorstellen. Oder wie WDR-Redakteure sie im Rahmen der politischen Korrektheit zulassen wollen. Im Prinzip könnte das alles auch im Odenwald oder in der Lüneburger Heide spielen. Die Modifikationen wären minimal. Beliebte Eifeler Schrulligkeiten wie Zwergenwerfen, Fronleichnamsprozessionen, Kampfjetabsturzstellenbesuchen und Golf-GTI/Baumstamm-Interaktionen lassen die Macher auch lieber weg. Der Ortsname „Hengasch, Kreis Liebernich“ ist allerdings ein Geniestreich. 
Veredelt wird das alles durch die Besetzung: die clowneske Theaterschauspielerin Caroline Peters als irre grinsende, augenrollende Kommissarin, Vollblut-Komödiant Bjarne Mädel als opportunistischer Beamtentrottel, die drall-resolute Petra Kleinert als kontrollfreakige, dauerkochende Landfrau und die reizende Meike Droste als treudoofe Möchtegern-Kriminologin. 
Letztere strahlt wie ein Honigkuchen-Pferd, sobald ihr eine (recht zwangsläufige) Erkenntnis gekommen ist, und man freut sich automatisch mit ihr. Das unverschämt spießige Leben des Ehepaars Mädel/Kleinert erscheint wie ein von jeder Komplexität und jedem Selbstzweifel verschontes Idyll klassischer Rollenverteilung und ist das Nonplusultra an Effektivität und zugleich Karikatur. Die Frustration der zum Herumdösen verdammten Hyperaktiven drückt sich bei Peters in Mimik und noch mal Mimik aus, einem hochdiszplinierten, völlig uneitlen Chargieren, dem man einfach zuschauen muss. 
Der örtliche Amtsarzt stellt bei jeder Leiche erst mal die Diagnose „Herzinfarkt“, der längst pensionierte Chef des Reviers will immer noch mit „Chef“ angeredet werden und agiert bei Radarfallen auch schon mal eigenmächtig, und bei Verfolgungsjagden quetscht sich garantiert aus einem Feldweg heraus ein Traktor zwischen Flüchtigen und Polizei. Das passiert in der Eifel nicht nur der Polizei, sondern besonders gerne auch Durchreisenden. Aber es ist nicht konstitutiv für die Eifel, es könnte auch im Odenwald vorfallen.
Entscheidend an Mord mit Aussicht ist vielmehr die gute Laune, die alle Beteiligten an der Herstellung hatten und die sich eine Dreiviertelstunde auf den Zuschauer überträgt. Es gibt hier Raum für Improvisation, und die Regie überlässt den aufeinander eingespielten Darstellern ungewöhnlich viel. Muss man liebhaben – und danach kann man dann von mir aus eine hippe US-DVD-Box aufgucken.

Dienstag, 13. November 2012

Wachstum

„Och, ich lass das einfach. Mal sehen, was da im Lauf des Sommers so wächst.“ Diesen Satz äußerte ich, als es im Frühjahr darum ging, das erste Unkraut aus den Balkonritzen zu zupfen. Natürlich war das ein Scheinargument, das eine liberale Einstellung gegenüber allem, was lebt, signalisieren sollte. Tatsächlich war es pure Faulheit. 
Jetzt, da der Balkon aufgrund des Laubs von den umstehenden Bäumen kaum noch betretbar war, musste der Landschaftsgärtner (= ego) also doch mal ran. Das Laub wurde weggeräumt, und nun, vor dem Frost, konnte ich bewundern, was meine Laissez-faire-Einstellung da so alles zum Gedeihen gebracht hatte. Ein botanisches Handbuch aus dem Jahr 1867 leistete bei der Bestimmung gute Dienste. 
Hintere Ecke links: Stechpalmenginster, Haselnuss, Weißdorn. Hintere Ecke rechts: Tollkirsche, Kokospalme, Buschwindröschen, Karotten. Vordere Ecke rechts: Ananas, Ficus, das-komische-Teil-mit-den-Bommeln, Anacondakraut. Vordere Ecke links, gleich an der Tür: Sackhüpferröschen, Promenadenbusch, Geiles Lieschen. In der Mitte: Ahorn und Kirsche. 
Nicht genug damit. Als ich den ganzen Urwald gerodet hatte (den Haselnussstrauch und den Kirschbaum ließ ich stehen), stieß ich in tiefere Schichten vor, wo das Laub von Jahrzehnten bereits in eine Art Humus oder Mulch übergegangen war. Großes Hallo beim Wiederfinden des seit 2007 vermissten knallroten Ferrari-Aschenbechers (jetzt blassrot). Nicht unerhebliche Freude beim Entdecken des verloren geglaubten Comichefts „Spiderman vs. Methangasmonster“. Leichtes Zusammenzucken angesichts des 2010 beim Abendessen heruntergefallenen Rindersteaks medium. 
Unerwartet und vermutlich auf vorherige Mieter zurückgehend: ein Zigarrenstummel mit Banderole „Cuba 1899“; das Originalmanuskript einer Erzählung von Heinrich v. Kleist; das Skelett eines Kleinsauriers; zwei Moorleichen, eine davon mit Stichwunden; Alien-Artefakt 17/3-B; Felsritzzeichnungen der Connemara-Kultur (darauf abgebildet: Alien-Artefakt 17/3-B); Büffelknochen; eine verlassene Ansiedlung polnischer Hausmeister. 
Na ja, gut, dass das jetzt mal alles erledigt ist.

Samstag, 10. November 2012

Palace Springs

Auch ein Album, das man gerne mal unterschätzt. Jetzt wieder in Erinnerung gerufen durch eine Doppel-CD-Luxus-Neuauflage bei Cherry Red Records. 
Erschienen 1991, mit nur zwei neuen Studiotracks drauf. Der Rest ist Live-Material von einem Konzert in Los Angeles 1990. Die Frau brachte es mir damals aus einem Plattenladen in Bonn mit, weil es im heimischen Trier nirgendwo zu kriegen war. 
Es mag ein Verlegenheitsalbum sein, aber es klingt verdammt noch mal wirklich gut. Heute noch besser als damals. Auf der US-Tour fehlte Geiger Simon House, aber auf den Studiostücken fiedelt er sich dafür einen ab. Da auch die Qualität der Live-Aufnahmen unerreicht phantastisch ist und die Publikumsatmosphäre nahezu weggemischt wurde, wirkt Palace Springs wie ein Studioalbum. Beim ersten Hören hielt ich es jedenfalls dafür. Eine neo-proggige, epische Angelegenheit mit ständigen Dynamikschwankungen, sehr elegant und fließend und formschön. Und mit wundervollen symphonischen Keyboardwänden unter gleichzeitiger Zurückdrängung des notorischen Gezirpes. Weich, tief und konzertan, poetisch geradezu und warmherzig, aber vor Gewalttätigkeiten ist man natürlich nie sicher. Im Vergleich zu diesem weichen Fließen wirken die aktuellen Hawkwind des Jahres Zwanzig-Zwölf wie eine dröhnende Bestie. 
Die beiden Studiostücke „Back in the Box“ und „Treadmill“ sind die besten Songs dieser Habicht-Ära, und die Live-Auswertung von „Assault & Battery/Golden Void“ übertrifft das Original von 1975. Vor allem wegen des höheren Tempos, des modernisierten Sounds und der absolut großartigen Hyperbelflüge, die „The Golden Void“ unternimmt. 
Die Neuauflage fügt zwei Bonustracks hinzu, weit fortgeschrittene Probeaufnahmen, die Spaß machen. 
Aufregend anders gerät die zweite Scheibe. Sie enthält nämlich das komplette Material von California Brainstorm, eines 75-Minüters, der weite Teile eines 1990er-Gigs in Oakland abbildet. Also von derselben Tour wie die Live-Tracks von Palace Springs, aber mit einem anderen Mix. Das Album begann einst als Bootleg, wurde aber wegen seiner offenkundigen Qualitäten merkantil vertrieben und von der Band schließlich als halboffizielles Live-Album akzeptiert. Aus den Katalogen ist dieser Tonträger dennoch lange schon verschwunden. Nun taucht er als offizielles und überarbeitetes Material wieder auf. 
California Brainstorm fällt auf durch einen ungewöhnlichen Mix, der nach hinten raus, wo sich auf Palace Springs die symphonischen Klangräume auftun, eher flach gerät, so dass Harvey Bainbridges Sound-Kathedralen schemenhafte Umrisse im Nebel bleiben. Auch das Gezirpe und Gezische kackt da hinten ziemlich ab, während der etwas dünne Bass im Remastering deutlich beackert wurde. Vorne im Mix jedoch geht es tumultös zu. Dave Brocks Gitarre ist sehr laut und gebärdet sich wie ein Punk-Biest mit angeworfener Motorsäge. Mitunter erinnert das an die punkige Live-Inkarnation der späten 70er (etwa: Hawklords Live 78). Prominent im Mix ist ebenfalls Richard Chadwicks Schlagzeug, und die Qualitäten des damals noch neuen Drummers springen einem in die Magengrube. Wie er diese Möbiusschleifen-Soundwelten rhythmisch unterfüttert, Rock-, Wave-, Punk-, Psycho- und Jazz-Stile vermischt, in unterschiedliche Zustände zwischen Disziplin und Enthusiasmus verfällt und das stoische Vorantrommeln des wavigen Psychedelic Rock durch zahllose Wirbel und Arabesken aufbricht, das ist nichts weniger als virtuos und atemlos. Am schönsten fügen die Dinge sich zusammen auf „Out of the Shadows“, „Night of the Hawks“ und „Back in the Box“, allesamt schartige Ambosse, die aus dem Orbit auf einen herabgeworfen werden. Vor allem „Night of the Hawks“ ist durch Brocks Mördergitarre, Chadwicks Taktverschärfung sowie unerwartete Atempausen eine der signifikantesten Live-Aufnahmen der gesamten Bandgeschichte. Rockmusik ohne Wenn und Aber. 
Ein super Paket, das die zwei Seiten der Band im Jahr 1990 beleuchtet, die episch-lyrische und die bissig-biestige. Und genau deswegen eine sehr relevante Publikation.

Mittwoch, 7. November 2012

Zehn Jahre

Den zehnten Jahrestag ihres Einzugs in den Haushalt verbrachte die Katze bisher größtenteils schlafend. Und das, obwohl hier alles voller Luftschlangen hängt, ständig Tröten geblasen werden, sie ein niegelnagelneues Kratzbrett geschenkt bekam und überall leckere Pute ausgelegt wurde. Vielleicht liegt es daran, dass auch die gefürchtete, stark parfümierte Tante eingeladen wurde, die alle anwesenden Geburtstagskinder mit stählernem Griff umfasst, fest an sich drückt und feucht und schmatzend auf die Backe knutscht.

Dienstag, 6. November 2012

G10


Irgendwo ist zu lesen, dass die Uhrentyp-Bezeichnung G10 zurückgeht auf das Versorgungsformular „G1098“, mit dem Angehörige der britischen Streitkräfte eine neue Armbanduhr anforderten. Später soll die Bezeichnung dann für alle sogenannten „issue watches“ (staatlich ausgegebene Militär-Einheitsuhren) gegolten haben. 
Dieses britische G10-Exemplar ist eine moderne Ausgabe, die sich weniger an Retro-Freaks und Feinmechanik-Enthusiasten richtet, sondern auf pure Alltagstauglichkeit aus ist. Auch ästhetisch, denn die Uhr fällt größer aus und bedient damit eher den heutigen Geschmack. Dennoch bleibt sie betont unauffällig und wird deswegen schnell zum Freund. Nicht zu dem zwar unterhaltsamen, aber auch ziemlich überspannten und geckenhaften Schnösel-Freund mit den Lackschuhen aus der Professoren-Villa die Straße rauf, eher zu dem etwas bulligen, zuverlässigen Kumpel mit den ölverschmierten Händen und dem sozialdemokratischen Vater aus der Arbeitersiedlung die Straße runter. 
Die Uhr ist günstig, quarzbetrieben, äußerst präzise, behebt keine Potenzprobleme, wertet einen sozial nicht auf, kann keine heranstürmenden Nashörner stoppen, strahlt nicht wie ein Honigkuchenpferd, verursacht keinen Augenkrebs und quatscht auch nicht dumm rum. Über der Sechs prangt kennerschaftlich der King’s Broad Arrow (= britisch), das Zifferblatt gehorcht jedoch den Vorgaben amerikanischer „issue watches“ aus den 60ern – also alles ganz genau so, wie es sein muss.

Montag, 29. Oktober 2012

In Her Majesty's Secret Cellar

Alles redet mal wieder über James Bond. Kaum einer weiß: Einige Verfolgungsjagden von Skyfall wurden bei uns im Keller gedreht. Nachdem das Team abgezogen und die Absperrung wieder aufgehoben war, fand ich beim Wäscherunterbringen die hier:


Sonntag, 28. Oktober 2012

Messerschmitt


Die Messerschmitt-Edition stammt von der Pforzheimer Firma Aristo Vollmer. Offensichtlich gibt es einigen Bedarf an sentimentalen Fliegeruhren, die auf die deutsche Luftfahrtgeschichte hinweisen. Könnte mir vorstellen, dass sich die Produkte im Ausland besser verkaufen als bei uns. Keine Ahnung, wer zuerst da war, die Messerschmitt- oder Junkers-Uhren. Junkers preist die Zivilluftfahrt, während Messerschmitt eher den militärischen Teil abdeckt und die Zifferblätter mit dezenten Zeichnungen historischer deutscher Kampfflugzeuge versieht. Oft orientieren sich die Objekte an der klassischen, riesenhaften „Beobachteruhr“ von ca. 1939/40, gefertigt für zivile oder militärische Piloten, die in dunklen Kabinen saßen und alle relevanten Informationen auf einen Blick erkennen mussten. Getragen wurden diese Klöpse zumeist an sehr langen Bändern über der Fliegerkombi. Die Nachbauten wurden für den heutigen Geschmack verkleinert, die meisten von ihnen sind mir aber immer noch zu groß und auch zu teuer. Aber an der entzückenden, kleineren Quarz-Variante der Me-109 führte kein Weg vorbei. Die Uhr wirkt, ganz den damaligen aeronautischen Vorgaben entsprechend, sehr aufgeräumt und sachlich, zugleich aber expressiv.  

Samstag, 27. Oktober 2012

Landschaft, nix als Landschaft

David Hockney hält seine Ansprache kurz. Tatsächlich sind alle Ansprachen nach fünfzehn Minuten durch. Das gab’s noch nie! Danach strömen die versammelten Massen in die buchstäblich große Ausstellung „A Bigger Picture“. Darin versammelt sind Landschaftsbilder sowie einschlägige Videoinstallationen des britischen (und lange Zeit wahlkalifornischen) Nationalheiligtums – inzwischen ein kleiner, gebückt gehender Opa wie der aus Pixars Up. (Danke an Frau K. für den Hinweis.) 
Es ist eine Landschaftsmalerei, wie ich sie überhaupt noch nie gesehen habe. Yorkshire ist grell und magnetisch, fast wie ein anderer Planet und doch eindeutig von hier. Das Land glüht in eigenartiger Symmetrie. Es gibt Baumstümpfe, die aussehen wie Figuren aus der Muppets-Show. Derselbe Standpunkt zu unterschiedlichen Tages- oder Jahreszeiten eröffnet ein völlig anderes Motiv, eine komplett andere Interpretation. Oft ist das riesengroß am Stück, dann wieder wird eine ganze Landschaft zerlegt in Einzelteile und durcheinander gehängt. 
Bei Hockney geht es zumeist um die Perspektive, wie mich fachkundige Menschen zwischenzeitlich aufklären, und die ebenso eklatante wie subtile Erweiterung derselben. Als äußerst gerissen erweist sich die Videokunst der Multifokus-Filme: Der Künstler lässt ein Auto im Schneckentempo über eine einsame Landstraße in einer Waldgegend fahren und rüstet den Wagen mit neun Kameras aus, die alle leicht zueinander verschoben sind. Zusammenmontiert ergibt das eine gigantische, gestochen scharfe HD-Videowand aus neun Bildschirmen, die ein Gesamtpanorama ergeben, wobei die Einzelteile jedoch durch die abweichenden Kamerapositionen nicht genau zusammenpassen und das, was ein einziges Bild sein sollte, auf verblüffende Weise zerlegt wird. Und das gleich an vier Wänden, viermal auf derselben Straße, im Frühling, im Sommer, im Herbst und im dicksten Winter. Dieser Raum der Ausstellung ist eine spektakuläre Meditation. 
Zudem hat bei Naturwanderer Hockney der Skizzenblock ausgedient und wurde durch das iPad und die App „Brushes“ ersetzt. Die auf fünfzehnfache iPad-Größe aufgezogene Gemäldeserie „Yosemite“ lässt einen vor Ehrfurcht schier erschauern, während die zahllosen grellen Yorkshire-Idyllen aus dem Rechner so wirklich und authentisch sind, dass der Betrachter da schwer wieder rausfindet. 
Landschaft, nix als Landschaft. Der kleine Naturfreund muss da unbedingt hin, um seine eigenen Beobachtungen in Wald und Flur mit denen des Künstlers abzugleichen. Kann er echt was lernen. 
Sehr, sehr viele Leute bei der Eröffnung, die Promi-Dichte war aber eher mau. War mir egal bei dieser Art Kunst, hatte keine Augen für Promis. Im Vorbeigehen registriert wurden nichtsdestotrotz der Bruder von Heinz-Rudolf Kunze, die dickste Frau der Welt, das Mädchen mit dem steifen Hals, das Kind mit den blinkenden Elektroschuhen, der-Mann-den-sie-Storch-nennen sowie der legendäre Blonde-Koreaner-mit-der-Strickmütze.

Dienstag, 23. Oktober 2012

Entropie

Neulich ergab sich eine dieser seltenen Gelegenheiten, dass ich aus dem Haus musste. Beim Blick in den Schuhschrank dachte ich bei mir, ich könnte mal wieder diese schwarzen Halbschuhe anziehen. Aus Kunstleder oder so was und mit Gummisohle. Sind schon was älter, aber noch ziemlich in Ordnung. Richtige Witterung dafür. Müssen ja nicht immer Turnschuhe sein. Die Halbschuhe quietschen eigenartig auf dem Parkettboden, das Fußbett kommt mir nach dem ständigen Turnschuhtragen etwas hart vor, die Ferse locker im Sitz. War das schon immer so? Egal, muss jetzt gehen. 
Nach drei, vier Schritten draußen vorm Haus beginne ich plötzlich zu wanken wie eine Landratte auf einem Schiffsdeck, hin und her, her und hin, und denke an einen plötzlich auftretenden motorischen oder neuronalen Schaden. Fühlt sich so das Ende an? Oder ist es gar ein Erdbeben in der Rheinischen Tiefebene, Stärke 9,5 auf der nach oben offenen Richterskala? Ich blicke irritiert nach unten in Erwartung von Rissen im Boden und klaffenden Erdspalten und glaube meinen Augen nicht zu trauen: Ich stehe sozusagen mit den bestrumpften Fußsohlen auf dem harten Boden der Einfahrt. An beiden Schuhen haben sich die Gummisohlen aufgelöst und in ein unidentifizierbares Gekrümel verwandelt. Ich blicke zurück, und hinter mir liegen ganze Fladen trockener, bröseliger Ex-Gummimasse wie eine Spur schwarzer Brosamen. Ist das ein Anschlag? Sabotage? Welche destruktive Macht hatte Zugriff auf den Schuhschrank? Will jemand, dass ich das Haus nicht mehr verlasse? 
Nein, es ist bloß das Gesetz der Entropie. Die länger nicht mehr zum Einsatz gelangten Sohlen haben im Schuhschrank ohne meine Erlaubnis ihre molekulare Ordnung aufgegeben, und der kurze Druck, den die paar Schritte vorm Haus ausgeübt haben, genügte, um die Treter komplett in Informationskrümel aufzulösen und sie dem Universum in Gestalt der Einfahrt zurückzugeben. Ich stehe da wie ein Tropf, mir fehlen vor Verblüffung die Worte, und das Kunstleder-Oberteil der Schuhe ist jetzt mehr so eine Gamasche auf Knöchelhöhe. Beruhigend immerhin, dass das so kurz nach der Haustür passiert ist und nicht mitten in der Stadt. Hätte dann auf Socken in ein Schuhgeschäft gehen und auf die verwunderten Blicke hin sagen müssen: „Entropie. Brauche Schuhe.“

Samstag, 20. Oktober 2012

Genscher!

Genscher kommt ein bisschen später. Flieger ist gelandet, soviel ist klar, aber jetzt steckt der Wagen irgendwo im Stau. Im Foyer des Museums für Ostasiatische Kunst, wo sich die 750 geladenen Gäste eingefunden haben, wird es derweil zunehmend heißer und lauter und enger. T-Shirt hätte auch gereicht, denke ich bei mir, Hemd und Sakko wären nicht nötig gewesen. Kann man aber nicht machen bei einer solch gediegenen Veranstaltung. Es geht hier schließlich nicht um einen schlurfigen New Yorker Pop-Art-Künstler, zu dessen Ausstellungseröffnung sich die schrillen Musen mit ihren blöden Frisuren sammeln. Nein, hier ist die höhere Gesellschaft anwesend, um die starke deutsch-chinesische Achse zu feiern, die es traditionell in Köln gibt. Das „China-Jahr“ 2012 trägt der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Volksrepublik und Bundesrepublik vor vierzig Jahren Rechnung, ebenso der Begründung der Städtepartnerschaft Köln-Peking vor einem Vierteljahrhundert. Das hier ist also nicht nur Kultur, sondern hat eine diplomatische, außenpolitische Dimension. Da muss man schon ein klein wenig staatstragend aussehen und dreinschauen.
Das Palastmuseum Peking hat für die Ausstellung „Glanz der Kaiser von China“ nur für Köln knapp 200 Exponate aus der Verbotenen Stadt herausgerückt, speziell solche aus der Qing-Dynastie (ab 1644), die auch die starke Kooperation des chinesischen Kaiserhofs mit europäischen Jesuiten belegen. 
Mit den Eröffnungsreden wird gewartet, bis Genscher da ist. Es wird wärmer und stickiger. Draußen im japanischen Garten, den man durch die Panoramafenster betrachten kann, flattern die Fledermäuse, mächtig irritiert von so viel noblem Volk. Ich mache mir derweil Sorgen um meinen Rücken, denn wir sitzen nun schon ziemlich lange auf diesen unbequemen Stühlen, und es kommen noch fünf Reden … 
Dann entsteht Unruhe; er ist da: Genscher! Mit gelbem Pullunder! Applaus, obwohl er noch gar nichts gesagt oder getan hat. Der Bonus der lebenden Legende. Er wird ausgiebig begrüßt und redet dann diplomatisch und völlig frei von Völkerverständigung und Respekt vor der Kultur des anderen. Hätte man glatt erwarten können, aber Mannomann, das ist Genscher! Der war damals bei der Aufnahme besagter diplomatischer Beziehungen selbst mit dabei. Ich war da erst fünf und demzufolge nicht dabei. 
Good Vibrations zwischen Deutschen und Chinesen, mächtig stolze Museumsdirektorin, nach vier weiteren Reden, einer davon auf Mandarin, geht es in die Ausstellung, wo die noble Gesellschaft am Eingang erst mal einen mächtigen Stau verursacht und sich die noblen Duftwässerchen ungünstig vermischen. Genscher wird von seiner Entourage durchs Gewühl nach vorn geschoben, einer der Fotografen schubst den Elder Statesman aus Versehen gegen mich. 
Die Ausstellung selbst ist prächtig und exotisch und umfassend. Die unglaublich aufwendigen, nahezu fotorealistischen Kaiserporträts im zweiten großen Raum ziehen mich spontan am meisten an. Als säßen sie tatsächlich da, die Himmelssöhne. Aber man muss sich als Europäer bei diesen Exponaten konzentrieren, und dazu ist ein solcher Eröffnungsabend mit seinem Gewimmel nicht so ideal. Müsste man sicher noch mal hin, um in Ruhe zu gucken. Vorbeigeschlendert an Thronen, titanischen Hofmalereien, buddhistischen Religionsutensilien, Porzellan, zeremoniellen Waffen wie dem Schwert „Große Reinheit“ und der Muskete „Macht und Triumph“ und zurück im Foyer entdecke ich auf meinem Sakko eine Fluse von einem gelben Pullunder. Muss vorhin beim Anrempeln passiert sein. Genscher!

Freitag, 12. Oktober 2012

GG-W-113 Automatik


Ich bin ein Bewunderer der GG-W-113, denn sie traut sich etwas Ungeheuerliches: Sie zeigt die Uhrzeit an – und sonst rein gar nichts. 
Dieses Exemplar verfügt über ein Automatik-Gangwerk. Ich hatte weiter unten, im Zusammenhang mit der A-11, gemutmaßt, dass Uhren mit Handaufzug den modernen, hippen Multitasking-Menschen heillos überfordern. Das war mehr so als Witz gemeint, es zeigt sich aber, dass es die blanke Wahrheit ist. Laut Herstellermitteilung entschloss man sich, die Produktion des GG-W-113-Vorgängermodells, desjenigen mit Handaufzug, einzustellen und auf eine Automatikversion auszuweichen, weil sich die Beschwerden häuften. Die Uhren kamen des Öfteren angeblich defekt beim Kunden an, standen still, waren nicht in Gang zu bringen und liefen höchstens für ein paar Sekunden, wenn man sie schüttelte (!). Also wurden sie entsprechend reklamiert. 
Überprüfungen des Kundendiensts ergaben, dass die Uhren mitnichten defekt waren, wohl aber die Kunden. Sie hatten keine Erfahrung mit solchen Modellen und rafften nicht, dass man bei Handaufzug-Uhren selbst Hand anlegen muss. Dass sie einen kleinen, mechanisch-symbiotischen Charakter erworben hatten, der sich zuallererst der Mitarbeit seines Trägers versicherte. Wenn der Träger allerdings zu blöd ist, die Zeichen zu deuten, dann kann der kleine mechanische Geselle allein auch nicht viel tun und muss Trübsal blasen. Besser, wenn er dann so ein Milieu bleischwerer Ignoranz und Dumpfheit umgehend wieder verlässt. 
Dass so ein kleiner Bursche sirrt und schwirrt und pluckert, bis die Sonne verglüht, wenn man ihn nur regelmäßig aufzieht, verstehen heutzutage nicht mehr alle. Und eine App, die das für einen erledigt, kann man auch nirgendwo downloaden. 
Würde mich nicht wundern, wenn die Automatikversion auch einige Reklamationen erfährt. In ihrem Innern haben sich nämlich ganz eindeutig Teile gelöst – denn sie „rappelt beim Schütteln“. Vom Rotor, jenem schwingenden Metallteil innen drin, das die Feder durch seine kinetische Energie immer wieder neu aufzieht, wissen vermutlich auch nur die wenigsten.
Diese rein mechanische Uhr, hier an einem sogenannten James-Bond-Band, erweist sich übrigens in Sachen Ganggenauigkeit als Wunderding. So gut wie keine Abweichung. Qualität! 

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Vernetzung

Schon toll, diese schöne neue Welt mit ihren Scan-Maschinen, Lieferservices, ihren Vernetzungen, ihrer Transparenz und lückenlosen Kommunikation. Amazon.de teilt mir von ganz allein mit, dass DHL meine Bestellung beim Nachbarn abgegeben hat und dass eine Benachrichtigungskarte mit dem Namen des betreffenden Nachbarn in meinem Briefkasten liegt. Es liegt jedoch keine Benachrichtigungskarte in meinem Briefkasten. Sie liegt nämlich im Kasten desjenigen Nachbarn, der die Ware tatsächlich bestellt und für den ich gestern das Paket angenommen habe.

Dienstag, 9. Oktober 2012

Herbst

Es wird Herbst und somit Zeit, die Platten der objektiv größten Rockband aller Zeiten herauszukramen und sie die Welt mit Bedeutung aufladen zu lassen. Und was muss als erstes in die Rotation? Natürlich das traurigste und trotzigste aller Ungeheuer ... Nur anklicken in gefestigtem emotionalen Zustand.

Sonntag, 7. Oktober 2012

Nachbar war im Fernsehen

Zum ersten Mal seit gefühlten dreißig Jahren wieder Wetten, dass …? geschaut. Nur die erste Stunde. Und auch nur deswegen, weil der neue Moderator im Haus nebenan wohnt und ich ihn täglich sehe, wie er kommt, geht, auf dem offenen Hinterhof in seinen Jaguar steigt oder von einem Chauffeur abgeholt wird, wie er telefoniert, sympathisch mit seinem Sohn spaßt oder wie er mit der Gattin Jogging-Runden durch den Park dreht. Spannend!
Wetten, dass …? war früher mal wichtigtuerische öffentlich-rechtliche Unterhaltung, konzipiert von einem notorischen RTL-Mann, der seine Kreise über das grenzländische Radio-Einzugsgebiet hinaus und in die große deutschsprachige Frühachtziger-Spießigkeit hinein erweitern wollte. Eurovisions-Fanfare! Und der sich als gesellschaftlicher Auftragnehmer verstand. Man denke nur an Böhms damaligen Spendenaufruf. Mittlerweile ist die Sendung allerdings nur noch redundante Spektakel-Grütze. Ich habe da offensichtlich einiges an Entwicklung verpasst und entsprechende Berichterstattung ignoriert. 
Ich sah mir auch die fünfzig Minuten währende „Countdown“-Sendung an, welche die geneigten Massen auf die Neuauflage der Show und vor allem den Moderator einstimmen sollte. Man will ja wissen, wer da so nebenan wohnt, wenn die Gardinen schon immer zugezogen sind. 
Und das war erhellend: die quälenden Klatsch-Lobhudeleien eines Senders, der es angeblich gut mit einem meint. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde. Immerhin lernen wir, dass der Moderator damals in Südtirol lange in Armut lebte und Klassenbester war. Das ist eine wertvolle Information, die direkt verweist auf dieses topfitte Streber-Strahlemann-Mineralwasser-Image von heute, dieses „Ich habe mich zum Großereignis hochgearbeitet, fahre aber immer noch nach Südtirol zu Mama, und alle dort kennen mich als den netten Burschen von nebenan“. Alle Befragten in diesem Special werden nicht müde, zu betonen, welch eine eierlegende Wollmilchsau, welch fachliches und menschliches Mineralwasser-Multitalent, der neue Moderator doch sei. Und Millionen von Schwiegermüttern vor der Glotze verfluchen innerlich ihre Schwiegersöhne. 
Die Sendung selbst ist dann nervöses, sprunghaftes Event-Gedöns, bei dem man dauernd auf Pannen lauert und verzweifelt versucht, Karl Lagerfelds Gedankengänge nachzuvollziehen. Bei dem freakigen Knaben, der die Bandansagen der Berliner S-Bahn auswendig gelernt hat, statt Blockflöte zu üben oder die Wilden Kerle zu lesen, schalten wir um. Genug gesehen. 
Der Moderator kam spät in der Nacht nach Hause. Im eigenen Auto, nicht mit dem Chauffeur. Wird auf der After-Show-Party also nur Mineralwasser getrunken haben.

Freitag, 5. Oktober 2012

Wenn im Jahr 2052 ...

... dein Enkel aus dem Musikprogrammierunterricht nach Hause kommt und dich fragt „Opa, was ist denn eigentlich dieser komische Jazzrock?“, dann spielst du ihm aus der Cloud dieses Stückchen hier vor. Er sagt danach bestimmt: „Boah, diese Bassspur ist aber sauschwer zu programmieren. Die Drums sind ja die Hölle! Und diese Geige kriegt nicht mal unsere KI hin!“ 
Dann konfrontierst du ihn mit der Wahrheit, er starrt dich eine geschlagene Minute entgeistert an und sagt schließlich: „Wie, echt jetzt? Die haben das per Hand eingespielt? Bekloppt!“  

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Die Rache des Zebrafohlens

Heute Nacht musste ich der Gattin die Funktionsweise eines G3 erklären. Ich brauchte sie als Rückendeckung.
Wir befanden uns nämlich aus irgendeinem Grund an einem mächtigen, über die Ufer getretenen Fluss. Darin waren ganze Herden von Wasserbüffeln, Gnus und Zebras ersoffen, und die Kadaver dümpelten in Ufernähe. Im Wasser hatten sich riesenhafte Krokodile versammelt, die immer mal wieder an Land schossen, um sich unvorsichtige Flaneure und Safari-Touristen zu schnappen. Es gab zwei Möglichkeiten, dem zu entrinnen: entweder von Huftier-Kadaver zu Huftier-Kadaver hüpfen und so den Fluss überqueren (lebensgefährlich!) oder über einen schmalen Uferstreifen zwischen dem Wasser und einem hohen Zaun fliehen. Ein beachtlicher Marsch, denn der Zaun verhinderte, so weit man blicken konnte, eine Flucht ins Hinterland. Also auch hier: lebensgefährlich!
Ich fand zwei intakte G3. Sie stammten vom halb zerkauten Safari-Wachpersonal am Flussufer, dem ich nun auch leicht angeekelt die Magazintaschen abnahm. Denn ich wollte bei der Flucht über den Uferstreifen vorausgehen und angreifende Krokodile wegputzen, wie ein Mann das eben tut, während natürlich jemand den rückwärtigen Bereich zu sichern hatte. Also musste ich der Gattin beibringen, wie man das Sturmgewehr bedient. Ging nicht anders. Ich war sehr erstaunt, wie gut ich das noch drauf hatte. An Details unseres Marschs erinnere ich mich nur vage, aber ich weiß noch, dass die Gattin sich sehr talentiert zeigte und weit mehr Krokodile umnietete als ich. Fließende, elegante Bewegungen: Magazinwechsel, durchladen, entsichern, Abzug drücken. Sie vollführte sogar Feuerstöße, obwohl ich ihr davon abgeraten hatte. („Gewehr bricht bei so was gerne nach oben aus. Einzelfeuer reicht, wenn du zwischen die Augen zielst.“) Die reinste Action-Heldin. Sie hatte danach nur einen blauen Fleck an der Schulter, von den dauernden Rückstößen, während ich von dem ständigen Geballer halb taub war.
Vor zwei Tagen hatte ich beim TV-Zappen eine Tierdoku erwischt, in der Krokodile Gnus und ein niedliches Zebrafohlen massakrierten. Ich habe weitergeschaltet, weil mir das zu grausam war. Nun kehrte es zurück. Nachdem ich es der Gattin erzählt hatte, meinte sie, sie hätte im Traum das Zebrafohlen symbolisiert und sich einfach nur an den ruchlosen Reptilien gerächt. 

Dienstag, 2. Oktober 2012

Uhrzeit

Nach der Uhrzeit auf dieser Seite stelle ich alle paar Tage meine jeweils in Benutzung befindliche Handaufzugs- oder Automatikuhr. Ich frage mich dabei ständig, wer der Typ auf dem Foto ist. Er sieht eigentlich ganz nett aus, aber das könnte täuschen. Tatsächlich könnte er da gerade die Weltuntergangsmaschine bedienen. Man weiß es nicht. Aber ich denke, solange er beim nächsten Seitenaufruf kein diabolisches Grinsen auf dem Gesicht hat, kalibriert er nur, und wir sind in Sicherheit.

Montag, 1. Oktober 2012

Throne und Mächte

Der Mann soll die Gattin abholen von einer Feier draußen im Llano Estacado, wo mitten in der Nacht nichts mehr fährt. Der Mann kennt sich im Llano Estacado nicht so gut aus, aber er denkt sich natürlich: „Wozu habe ich das Navi?“ 
Als der Mann die Straße runter im dunklen Auto sitzt, das Gerät eingestöpselt hat und die Adresse eingeben will, ist das Gerät allerdings tot wie ein Roland-Emmerich-Film. Was ist das jetzt? Zu spät, der Sache auf den Grund zu gehen. Mann beißt die Zähne zusammen und fährt einfach los in die ungefähre Richtung des Llano Estacado. Er war zwar nie Pfadfinder, dafür aber Messdiener und verfügt demzufolge über einen Draht zu den himmlischen Thronen und Mächten. Die Throne und Mächte sind jedoch offenbar ihrerseits gerade auf einer Feier und schütten sich mit Messwein zu, denn es zeigt sich, dass die allerwichtigste Autobahnauffahrt, der einzig sinnvolle Weg hinaus aus dieser urbanen Wirrnis und in Richtung Llano, schlichtweg zugenagelt ist und die Umleitungshinweise so scheiße und klitzeklein und dunkel sind, dass der Mann einfach geradeaus fahren muss, immer weiter hinein in die stockdunkle Walachei, und die liegt bekanntlich in der Gegenrichtung des Llano Estacado. In der Hoffnung, irgendwo auf einen Umleitungshinweis zu stoßen, fährt der Mann stur weiter bis fast nach Hoboken/New Jersey, ehe er sich am Brennholzstapel zum Wenden entschließt, um wieder die ungefähre Richtung des Llano einschlagen zu können. 
Die himmlischen Throne und Mächte haben ihre Feier inzwischen beendet, und nicht alle von ihnen sind besoffen. Der Mann findet sich urplötzlich wieder auf genau dem richtigen Autobahnkreuz und wählt am Viehpferch die genau richtige Abfahrt. Im Himmel schauen ihm inzwischen die paar nüchtern gebliebenen Throne und Mächte zu und sind sich offenbar uneins. Die Pro-Fraktion lenkt ihn nach einigen staubigen Kilometern am Versammlungshaus der Quäker auf die exakt richtige Abfahrt und in Richtung des Llano Estacado. Es gibt hier offenbar nur eine Straße. Die Contra-Fraktion sorgt jetzt jedoch dafür, dass das lauschige Zielörtchen, dieses vornehmliche Kuhkaff, das sich um eine einsame Ranch herum gebildet hat, deutlich komplexer ausfällt als gedacht. Es ist eine gottverdammte Stadt, wer hätte das gedacht, so weit draußen im Llano? Der Mann gondelt eine Zeitlang verwirrt von nächtlicher Straße zu nächtlicher Straße, von Allee zu Allee, von Prachtboulevard zu Prachtboulevard, wird vom Saloon aus sogar beschossen. Er tangiert das verrufene Hafenviertel, wird von einer Gang gejagt, die scharf ist auf seinen Kleinwagen, wendet diverse Male und ringt bei der Seniorenresidenz kurz um Atem, ehe die Pro-Fraktion die Contra-Fraktion mit alten Nackfotos von Burt Reynolds ablenkt und den Mann und sein Auto exakt da, aber wirklich exakt da!, platziert, wo die beiden hin wollen. Der Zielpunkt, den der Mann auf seinem Navi eingegeben hätte, sofern es denn funktionieren würde, ist übrigens eine Kirche. Als er aussteigt, erschallt von hinter dem verschlossenen Kirchenportal ein einzelnes, aber mehrstimmiges „Hosianna!“. 
Mann läutet am Haus mit der Feier und holt Gattin ab, nur unwesentlich zu spät: „Sorry, Navi ist tot.“ Rückweg kein Problem. Mann kennt den Llano Estacado ja jetzt. 
Zurück in der Wohnung und unter hellem Licht, entdeckt der Mann unten am Navi einen ihm bislang gänzlich unbekannten Schalter mit „Off – On“. Der Schalter ist im Grunde widersinnig, denn wenn man das Gerät herunterfährt – also nicht bloß auf Stand-by –, dann ist es ganz aus. Warum also dann noch einen Schalter dafür anbringen? Und dieser Schalter stand natürlich auf „Off“, obwohl das zuvor noch nie der Fall gewesen war. Mann korrigiert sich: „Navi ist doch nicht tot.“ 
In Zukunft vertraut er doch lieber der Pro-Fraktion.

Sonntag, 30. September 2012

Kronleuchtersaal

Eine kleine Knipserei im „Kronleuchtersaal“. Teil der Kölner Kanalisation auf der Grenze zwischen Altstadt-Nord und Neustadt-Nord. 1890 fertiggestellt als Meisterwerk der Kanalisationsarchitektur. Es wurden zum Einweihungstag feierlich zwei Kronleuchter angebracht, weil Wilhelm Zwo sich angekündigt hatte. Wilhelm Zwo kam aber nicht, sondern besuchte lieber seine Truppen auf der anderen Rheinseite. Blödmann. Ein Nachbau eines der Kronleuchter ist noch da, statt Kerzen gibt’s heute elektrisches Licht. 
Die Lichtverhältnisse sind ein bisschen unberechenbar da unten, und es fehlte die Zeit, etwas mit der Kamera herumspielen zu können, aber für einen Eindruck reicht’s. Bedauerlich auch, dass es keine Geruchsfotografie gibt. Die Damen liefen die ganze Zeit mit Schals vor dem Mund herum, den Herren machte es offenbar nichts aus. Männer sind im Allgemeinen ja auch stolz auf ihre Exkremente.

Samstag, 29. September 2012

Verrat!

Wie sympathisch! Da wurde ein neuer, 30sekündiger Ford-Werbespot mit „Master of the Universe“ unterlegt, und die Hawkwind-Fangemeinde steuert auf einen publizistischen Bürgerkrieg zu. Sofern man Facebook-Kommentare der Publizistik zurechnen darf. 
Die eine Fraktion meint, es sei gut, dass die Musik ein größeres Publikum findet, und macht sich sogar Hoffnungen, die Jugend dahingehend erziehen zu können. Denn für die Jugend ist es völlig normal, dass sie ihr neues Ohrenfutter über Werbespots identifiziert – und für die Bands bedeutet es einen signifikanten Anstieg der Verkaufszahlen sowohl von MP3-Downloads wie auch ganzer CD-Alben. Solange der Spot der Jugend nur oft genug eingebläut wird. 
Die andere Fraktion spuckt Gift und Galle und wirft der letzten echten Underground-Band der Welt vor, Ideale verraten und sich dem System angedient zu haben. Auto-Werbespot? O je. Die Band sei nun nicht mehr „moralisch besser“ als all die anderen Bands oder der Popstar von letzter Woche. Und überhaupt: Die Jugend interessiere das einen Scheiß. Zu beachten ist allerdings, dass die Band über den Werbespot lediglich informiert, nicht aber um Einverständnis gebeten wurde. Die Rechte des Stücks liegen nach wie vor bei der EMI. Geld gibt’s auch keines, und Titel und Interpret des Stücks werden im Spot nicht eingeblendet. 
Ich selbst stehe der Sache indifferent gegenüber. Einerseits werden dreißig Sekunden eines monumentalen Psycho-Rock-Meisterwerks kontextlos zum Beliebigkeitsgedudel degradiert, andererseits berührt es, wenn diese vertrauten Klänge einen so unvermutet anspringen. Sympathisch finde ich aber auf jeden Fall den aus der Zeit gefallenen Disput zwischen Sozialpädagogen und Antikapitalisten, der uns an ideologisch verbindlichere Zeiten erinnert.

Freitag, 28. September 2012

Kuschelig!

Die kubanische Heizung pluckert wie verrückt und ist jetzt regelrecht zu warm. Muss sie runterstellen.
Jawohl, sie funktioniert wieder. Und wie! Der Vermieter hat irgendwo einen schnauzbärtigen Typen namens Miguel aufgetrieben. Der klingelte bei mir, radebrechte ein bisschen auf Hispano-Deutsch, und ich schickte ihn in den Keller. Dort schuf er für die Heizung ein Wohlfühlklima und gab sich richtig Mühe. Er sang einer Vollversammlung der Relais die „Internationale“ auf Spanisch vor und reinigte Welle und Lager des Brenners zärtlich mit einem originalen Che-T-Shirt aus den Siebzigern. Danach spülte er irgendwelche Leitungen mit Cuba Libre durch und installierte kurz hinterm Brenner das Triebwerk einer alten SS-5-Mittelstreckenrakete, die noch aus der Kuba-Krise übrig geblieben war. Von Letzterem, so sagte er verschwörerisch grinsend, dürfen die Amerikaner natürlich nichts wissen, also: Pssst! 
Der Trick bei kubanischen Heizungen ist, ihnen den Eindruck zu vermitteln, sie seien noch in Havanna und stünden im Dienst der befreiten Arbeiterklasse. Eine Handynummer hat Miguel leider keine hinterlassen, weil er den ganzen Winter über durch den ehemaligen Ostblock zieht, um versagende kubanische Heizungsanlagen zu kurieren. Er empfahl uns die Aufstellung eines Tischaltars mit Linkskitsch im Heizungskeller. Ich teilte ihm mit, dass ich oben im Schreibtisch noch gewisse Fotografien von Sahra Wagenknecht und Gesine Lötzsch in Unterwäsche habe, aber er lachte nur mit bebendem Schnauzbart, sagte, es müsste schon mindestens eine Trotzki-Büste sein, und zog von dannen. 

Donnerstag, 27. September 2012

Phaser auf Betäubung

Ich befand mich in der Progressive-Rock-Phase, erste Hälfte Achtziger, und war gerne bereit, diese Musik zu verteidigen gegenüber jenen, die den ProgRock als unerträglich kunstsinniges Salbadern charakterisierten und seine Adepten als Bildungsbürgernachwuchs, der sich für was Besseres hielt, weil er ELP analysieren konnte, aber von ordentlich schwitzendem Rock, rebellionsverheißendem Punk, dunkelmanischer New Wave und generationsprägendem Pop notorisch keine Ahnung hatte. Sie hatten natürlich recht, diese Kritiker, aber das war mir damals egal. Ich wollte auch ein bisschen kunstsinnig sein. Ein bisschen nur. Außerdem glaubte ich sowieso entdeckt zu haben, dass mir der etwas härtere Anschlag zusagte, der Moment, wenn ProgRock in Richtung prolligen Hardrock umkippt statt in Richtung Hochkultur.
Ich überprüfte damals auch die Kanadier hinsichtlich ihrer Relevanz. Unter Bürgersöhnchen war gerade das Trio Rush angesagt: Seine kunstvoll organisierte, virtuos eingespielte, aber auch ziemlich ruppige Musik hatte eine Konsensband zur Folge, die den Eindruck vermittelte, etwas Besseres zu sein, aber auch headbangerische Gelüste befriedigen zu können. Heute gilt Rush als die Nerd-Band schlechthin. Das begann damals, als kulturell ambitionierte und zugleich technologieverliebte Bürgersöhnchen, die sich zu Weihnachten ein Keyboard wünschten, die Band anzuhimmeln begannen.
Egal jetzt. Im Zuge meiner Kanada-Studien traf ich jedenfalls auf die Band FM und ihr Debütalbum Black Noise von 1977. Auch diese Band war ein Trio und bevorzugte eine etwas abweichende, elegische, sehr bewegliche Fusion aus symphonischem Melodic Rock, Spacerock und Jazzrock. Der erste Song, den FM auf Vinyl bannten, heißt „Phasors on Stun“ („Phaser auf Betäubung“), und er ist das schönste Musikstück der Welt. Einfach deshalb, weil er die lästige Erdenschwere aufhebt und einen sofort und unmittelbar in einen Zustand katatonischer Glücksseligkeit katapultiert, der nie aufhören sollte, es aber nach knapp vier Minuten bedauerlicherweise doch tut. Man ist erstmal erstaunt über diese Phase unbedingter Lebensfreude, die gar nichts anderes mehr zu kennen scheint als Lebensfreude, ehe man runterkommt, eine gewisse Traurigkeit ob des Verlusts verspürt und sich auf der LP auf die Suche nach weiteren solcher Momente begibt. Man findet sie, z.B. in dem instrumentalen Fusion-Irrsinn „Slaughter in Robot Village“ oder dem monumentalen Titelstück am Ende des Albums mit seiner perkussiven Grandeur, aber wie ein Junkie kehrt man zurück zum Opener „Phasors on Stun“, um dieses ästhetische, gravitationsverneinende Taumeln, auf das man in dieser Form völlig unvorbereitet war, noch mal zu erleben.
FM benutzen keine E-Gitarre. Die wird ersetzt durch Mandoline und Geige, an denen sich eine mysteriöse Kunstfigur namens Nash the Slash abarbeitet. Nash tritt bis zum heutigen Tag als Solist auf, bandagiert und mit Sonnenbrille wie „der Unsichtbare“ und mit Zylinder und Frack. Er ist eine kanadische Electro-Rock-Ikone. Als Mitglied von FM arbeitete er Mandoline und Geige als Trägermedien in die Rockmusik ein und benutzte sie nicht bloß als exotische Solo- und Nebendarsteller. Und zusammen mit Cameron Hawkins als Sänger, Bassist und Keyboarder sowie Martin Deller als Gottes eigenem Drummer destillierte Nash pure Schönheit.
„Phasors on Stun“: Nach dem flirrenden Mandolinen-Intro, untermalt von esoterischem Keyboardschweben und Drum-Akzenten, steigt ein steiler, weltabgewandter, nach oben zischender Melodic-Rock-Bogen auf, der einer Sehnsucht nach Weite und Schönheit Ausdruck verleiht, wie man sie selten gehört hat. Dabei scheint die Mandoline diesen technologischen Keyboard-Spacerock, diese Raketenantriebsmusik, aber im Folkloristischen zu erden. Ungewöhnlicher Sound. Auf Youtube hat jemand Videos von Jetflügen mit diesen Klängen untermalt. Und der Mann HAT RECHT.
Aber es kam natürlich, wie es kommen musste. Irgendwann hatte der Jungmann sich daran satt gehört, die Jahre schritten voran, Kleinbürgersöhnchen ging studieren, wollte jetzt selbst ein bisschen hip werden und hörte mit Vorliebe das, was die „Spex“ ihm und seiner Generation empfahl. Musste ja mitreden können. Kurzum: Ich habe „Phasors on Stun“ seit wohl mehr als 25 Jahren nicht mehr gehört. Dann lese ich vor kurzem, dass Cherry Red Records aus UK im Herbst den gesamten Katalog der Band FM neu und remastered auflegt. Und denke bei mir: „Muss ich auch mal wieder anwerfen.“ Natürlich erwarte ich eine Enttäuschung, vielleicht sogar einen Anfall von Schüttelfrost, wie so oft. Tatsächlich aber hauen mich die ersten Klänge des Mandolinen-Intros fast von der Sitzgelegenheit, und im Innern des gealterten Kleinbürgersöhnchens baut sich eine Spirale von regelrechter Kunstsinnigkeit auf, die sich immer schneller dreht, eine spiralige Sehnsucht nach – ja, was wohl? – nach Weite natürlich, nach stahlblauem Himmel und einem ordentlichen Triebwerksstrahl unterm Arsch, nach Mandoline! Fliege hoch, kleines Raumschiff!

Mittwoch, 26. September 2012

Die Relais

Wie mir der Vermieter mitteilte, stammt unsere Heizungsanlage aus Kuba. Er bekam sie annodazumal durch Vermittlung des polnischen „Hausmeisters“ recht günstig. Nun ist Kuba sicher toll und eine Reise wert und so, aber die Kubaner sind keine ausgewiesene Heizungsbauernation, weil ihnen einfach die Heiztradition fehlt. Zudem ist die Anlage schon recht alt. Deswegen läuft sie zwar an, wenn sie eingeschaltet wird, ackert aber nur circa vier Stunden, ehe sie auf „Störung“ geht. „Die Relais, die Relais!“ Sie sind solch lange Arbeitsperioden, wie wir sie hier benötigen, nicht gewohnt, treten in den Ausstand und rufen „Gewerkschaft!“. 
Monteure, die sich mit postrevolutionären kubanischen Heizungsanlagen aus den 1960ern auskennen, sind hierzulande schwer zu finden. Selbst in der Geschäftsstelle der Linken zwei Straßen weiter fand sich niemand. Die Praktikantin (rotgefärbte Haare, Stacheldraht im Gesicht) meinte, der Ludger könnte vielleicht helfen, aber der sei als Wahlbeobachter in Weißrussland gewesen und hätte noch ein Selbsterfahrungsseminar in Albanien drangehängt. Keiner wisse, wann er wiederkommt, und es würde niemanden verwundern, wenn er plötzlich in der Presse als albanischer Energieminister wiederauftaucht. 
Nun ja, wir sind also momentan noch am Überlegen, wie es weitergeht. Jeden Tag kommen die ziemlich ratlosen Monteure und tauschen irgendwelche Relais aus. Aber die neuen deutschen Relais werden von den kubanischen Restrelais in einer (schein-)demokratischen Abstimmung mit angeblich 156% Wahlbeteiligung überstimmt, und nach vier Stunden Laufzeit ist wieder „Störung“. Unter anderen Umständen wäre das durchaus sympathisch (ich selbst arbeite auch selten mehr als vier Stunden am Tag), aber es wird doch langsam etwas schattig in den Wohnungen. Der Vermieter verspricht für nächstes Jahr eine komplett neue Anlage. Er hat da ein Angebot aus Haiti an der Hand.

Montag, 24. September 2012

Endlich: Heizung ist an

Ha! Der Vermieter hat unten im Keller den „Ein“-Schalter der Heizung gefunden. Er irrte schon seit Wochen da herum, murmelte vor sich hin, spuckte gelegentlich lautstark aus und drückte auf alles drauf. Lichtschalter, Waschmaschinenbedienknöpfe, Überlaufpumpe, Fernseh- und Telefonanschlussbuchsen, Stromsicherungen. Er betätigte sogar die Klingeln abgestellter Fahrräder, weswegen es zwei Tage lang aus dem Keller unaufhörlich klingelte. Zwischenzeitlich fasste er im Dunkeln in eine blanke Steckdose, erhielt einen Schlag und lag für drei Wochen nebenan im Krankenhaus der Barmherzigen Bettpfannen. Kaum genesen und wieder im Keller, rüttelte er an den Bretterverschlägen der einzelnen Kellerräume, sperrte sich versehentlich für drei Tage in einem davon ein und entdeckte beim Versuch, sich herauszugraben, einen 50-Tonnen-Blindgänger mit Säurezünder aus dem Zweiten Weltkrieg, weswegen für drei Tage das Viertel geräumt werden musste. Danach fand er den seit 1972 vermissten Mieter aus der Wohnung OG-2-rechts im Keller von OG-1-links, was wiederum allerhand polizeiliche Ermittlungen und Verzögerungen nach sich zog. Die Polizei fand weiter hinten, in der alten, versifften Sauna, ein Waffendepot der RAF von circa 1977 sowie genaue Pläne des Buback-Attentats mitsamt Nennung der Täter. Nachdem die Beamten mit der Beweissicherung fertig waren, stieg der Vermieter wieder runter und fing erneut an mit den Fahrradklingeln. Die Mieter schlugen sich derweil an die Stirn und verdrehten die Augen gen Himmel. Denn eins fand der Vermieter nicht: den Schalter für die Heizung. Jetzt aber hat er ihn entdeckt, und es bleibt zu hoffen, dass er ihn auch als Heizungsschalter erkennt und nicht noch mal draufdrückt. Wenn er in drei Wochen nicht zurück ist aus dem Keller, gehe ich mal mit der Taschenlampe runter, ihn suchen.

Mittwoch, 19. September 2012

Kleine Industriegeschichte

In dem Buch, das ich gerade bearbeite, ist zwischenzeitlich die Rede von dem Luxemburger Henri Tudor, dem Erfinder des Akkus (luxemburgisches Patent: 1886). Ich hatte vage davon gehört, aber so richtig tiefgreifend bewusst war es mir bislang nicht: Der Erfinder des Akkus wurde im Südeifeldorf Ferschweiler geboren und verbrachte sein ganzes Leben im luxemburgischen Grenzdorf Rosport. Das liegt fünf Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt und ist heutzutage, eigentlich schon seit Generationen, ein Hauptanlaufpunkt fürs Betanken der Grenzländer-Autos. 
Weiter oben im Dorf befindet sich das sog. „Tudor-Schlösschen“, das ich als Kind und Jugendlicher immer für irgendeinen skurrilen Sitz einer englisch-luxemburgischen Adelsverbindung hielt. Tatsächlich aber ist es die Villa des Unternehmers Henri Tudor, die inzwischen zu einem kleinen Museum umgebaut wurde. Die Tudor-Villa war eines der ersten Gebäude in Europa, das durchgehend mit elektrischem Strom versorgt wurde. In unserem Rosport! Man glaubt es kaum. Den Strom lieferte eine alte Mühle am Fluss Sauer, die zuvor tausend Jahre lang dem Trierer Irminenkloster gehört hatte, genau wie übrigens auch mein Heimatdörfchen und seine Bewohner, also ziemlich wahrscheinlich auch meine eigenen Vorfahren. Schon 1886 beleuchtete Tudor auch die einige Kilometer flussaufwärts gelegene Kleinstadt Echternach mittels zentraler Stromerzeugung. Was Echternach zu einem der ersten dauerilluminierten Orte Europas machte. Ich finde, die Luxemburger und die Grenzländer wuchern viel zu wenig mit diesem Pfund. Gerade angesichts der IT-Gesellschaft, die ohne Akkus noch auf Trommeln und Rauchzeichen zurückgreifen müsste.
Tudor unterhielt eine kleine Fabrik in Rosport, expandierte nach Belgien, Frankreich und Deutschland und vergab genau definierte Lizenzen zu Bau und Vertrieb seiner Blei-Akkus an andere Unternehmen. Die 1887 so entstandene deutsche „Afa“ (Accumulatorenfabrik Aktiengesellschaft) wurde zum Weltmarktführer für Batterien, auch wegen des kriegswichtigen Baus von Auto- und U-Boot-Batterien. Ab 1922 gehörte sie zum Firmenimperium des Günther Quandt, war heftig umstritten wegen der Ausbeutung von Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg (Stichwort: Hannover-Stöcken) und wurde viel später zur VARTA. 
Ich finde es durchweg erstaunlich, dass der Herr, der es mir ermöglicht, diesen kleinen Eintrag gemütlich und kabellos auf der Couch herunterzuschreiben, gleich von nebenan kam. Ich werde ihm beim nächsten Mal die Ehre erweisen und endlich mal seine dolle Villa besuchen.

"Ich weiß es doch auch nicht"

Neues Programm von Wilfried Schmickler. Premiere. Richard Rogler und Volker Pispers sind auch anwesend. Entweder aus Solidarität oder aus Argwohn. 
Schmickler weiß es zwar auch nicht, das aber immerhin sehr eloquent, und gegen Ende bietet er Lebenshilfe an und schlägt eine ganze Reihe kleiner anarchischer Akte vor, die zwar nichts beantworten, aber immerhin auf die Fragen hinweisen („Das kann doch nicht sein!“). Er ist der dunkel grollende, in Salven sprechende Mittelsmann zwischen der Kölner Südstadt, Johnny Cash und der großen und kleinen Politik. Und es ist immer wieder eine Freude, dem weichen Kern des raubeinig wirkenden Bühnenaktivisten auf die Spur zu kommen. Diesmal ist es vor allem eine kleine Variation von „Wandr’rers Nachtlied“, gewidmet verstorbenen Freunden, welche die Stille preist, aber dauernd von einem grellen Klingelton-Rap durchschnitten wird. Da ist echte Trauer im Spiel, und Wut. Überhaupt ist an Schmickler alles echt. Er ist der vielleicht authentischste Kabarettist der Nation, der auch im Privaten sehr engagiert ist, ohne drüber zu reden. Mit zunehmendem Alter bestätigt sich auch an ihm eine althergebrachte Lebensweisheit: Er wird weiser. Nachdenklicher sicher auch, aber keinesfalls milder. Die FDP hat er gefressen, sowieso, das ist bekannt. Die Piraten auch („da kann ja nichts schiefgehen“), das Führungspersonal der Linken watscht er in metaphernreichen Wortkaskaden ab, dass man den Kopf einziehen möchte („Eigenheim-Sozialist“, „Rosa-Luxemburg-Kleindarstellerin“, „grinsender Kugelblitz“). Er ergeht sich aber auch über die Allgegenwart des TV-Talks, über verhasste Popmusik auf jedem Pissoir der Republik oder die ständige Eventkultur, die unter anderem in der Flutung von Lüdenscheid mündet. Dazwischen das groteske Verlesen von Nachrichten mittels Assoziationsketten, die mythische Schlacht zwischen Prognostikern und Antignostikern und die Vorstellung seines neuen Buchs „Deutschland – ein Abwasch“, das nur aus leeren Seiten besteht, auf die jeder seine eigene Agenda schreiben kann, um dann beim Lesen auszurufen: „Endlich sagt mal jemand, was gesagt werden muss!“ Und er ist – so wie ich auch übrigens – froh, dass Pussy Riot kein Deutsch-Pop ist, denn dann hieße es in den Nachrichten: „Mösenaufstand im Arbeitslager“. 
Schmickler ist immer eine Reise wert. Nun gut, bei uns dauert sie nur zwei Fußminuten, aber viele Leute nehmen weitaus längere Wege zum „Parkplatzparadies Neustadt-Süd“ (Schmickler) in Kauf, um ihn zu erleben. Zwei weitere Termine diese Woche, aber – klar – ausverkauft.

Samstag, 15. September 2012

The Belfast Gigs

Eines der erklärten Lieblingsalben. Ein rumpelndes Ding, robust und „tight as an asshole“, wie der Lateiner sagt. Mitschnitte der Belfaster Abschiedskonzerte von 1980. Ursprünglich eine einzelne LP, auf späteren CD-Reissues gibt es noch den krachigen Bonustrack „Sword of Light“. Zu meiner Zeit, Anfang/Mitte der Achtziger, war schwer ranzukommen, denn die Platte war bereits gestrichen. Außerhalb Irlands kannte die Band kaum noch jemand, und die Zeit, als sie mit „Dearg Doom“ in Deutschland einen Chart-Hit hatte, lag mehr als eine Dekade zurück.
Nun, gegen Ende hatten sich in der Band zwei Fraktionen gebildet, die Traditionalisten („mehr Folkrock!“) und die Progressiven („nee, mehr Wave-Rock!“). Der unüberbrückbare Graben führte 1980 zur einvernehmlichen Trennung nach zehn Jahren. Zuvor ging man noch auf eine obligatorische Irland/Nordirland-Tour und bot den Leuten ein „Best of“. 
Um ihre älteren, melodischen Folkrocker spielen zu können, musste die Band den wave-rockigen Charakter ihrer vorherigen Studiobemühungen zurückfahren und Horslips-Standardmaß anlegen. Und die etwas glatten, gefälligen Mainstream-Produktionen der letzten Studioalben spielten live ohnehin keine Rolle. Damals mag es anachronistisch gewesen sein, aber mit mehr als dreißig Jahren Abstand interessiert das keinen mehr. Tatsächlich ist The Belfast Gigs vollkommen zeitlos.
Die Platte gerät bedingungslos elektrifiziert und huldigt dem ruppigen Hardrock, der dem Sound stets innewohnte, wie nie zuvor. Da werden die Verstärker schon mal bis 11 aufgedreht. Ein Geschrubbe, das ohne weiteres die Phonstärken von Verwandten wie Thin Lizzy erreicht, aber noch keltischer, noch wirbelnder rüberkommt. Und die Verbindung von mythisch-pathetischem Gezwirbel, diesem Quasi-Fantasy-Sound direkt aus dem Feenkreis, mit jaulendem Rock ist enthusiastisch. Wenn Johnny Fean das Traditional „King of the Fairies“ mit einer vollkommen mitleidlosen Schweinerock-Gitarre ausstattet, über der sich Charles O’Connor einen wegfiedelt, bis die Finger bluten, dann darf man als Konsument getrost seine gesamte Mittelalter-Gothic-Metal-Gekröse-MP3-Sammlung löschen und durch diesen einzigen Track ersetzen. Und von den Live-Versionen von „Sword of Light“, „Blindman“ und „Dearg Doom“ haben wir da noch gar nicht gesprochen, bei „The Power and the Glory“ fehlen mir ohnehin die Worte. 
Das fällt so heavy und rustikal aus, dass ich mich an die neuen Horslips noch nicht herantraue: Auf Live at the O2 von 2010 traten wiedervereinigte, etwas füllig gewordene Herren in der Dubliner Hochglanz-Arena an, um die nostalgischen Gefühle ihrer irischen Landsleute zu bedienen. Wurde allgemein gut aufgenommen, aber ich hege Zweifel, ob sie noch das Feuer von The Belfast Gigs unterm Keltenarsch haben.