Montag, 16. Mai 2011

Seid fruchtbar

Wir waren eingeladen zur Geburtstagsfeier. Außerdem galt es, den relativ frischen Nachwuchs des ausrichtenden Paares erstmals zu bestaunen. Eingeladen waren ebenfalls etwa 25 junge Familien. Jede der jungen Familien brachte es auf eine Stückzahl von 1-3 Kinder im Baby- oder Kleinkindalter. Wo man auch stand und ging, musste man achtgeben, nicht auf ein krabbelndes Geschöpf zu treten. Ihre Namen lauteten unter anderem Lilith, ein niedliches Mädchen (allerdings benannt nach der ersten Frau Adams und dämonischen Mutter aller Succubi), oder Pelle, ein freches Knäblein, das in späteren Jahren womöglich Probleme mit der Partnerinnenwahl haben wird, denn welche Frau will einen Mann heiraten, dessen Name klingt, als sei er etwas, in das Wurst gepresst wird, und nicht etwa ein Kerl?
Gegen Kinder ist naturgemäß nichts einzuwenden. Bekanntlich erging einst von höherer Stelle die Order an alles zwischen Blattlaus und Buckelwal: „Seid fruchtbar und mehret euch. Nutzt eure primären Geschlechtsorgane und besät meinen Acker.“ Die jungen Familien auf dieser Feier hielten sich daran, sie sind in jeder Hinsicht auf der richtigen Seite: biologisch, moralisch, weltanschaulich. Und sie hatten sich offenbar schon vor einiger Zeit untereinander abgesprochen, die zukünftige Bevölkerung eines ganzen Stadtviertels allein zu zeugen.
Mit dem Besäen ist es jedoch nicht getan, die Frucht muss gehegt und gepflegt werden. Was dann unablässig zu verbalen Hegemaßnahmen führt wie: „Nicht auf das Geländer klettern, Liliane!“, „Nein, Sven-Oliver, du pieselst nicht in den Teich!“, „Rose, hau dem Thure nicht immer mit der Schaufel auf den Kopf. Nimm wenigstens die aus Plastik und nicht die aus Metall“ oder auch: „Britta, pass bitte auf dein Brüderchen auf. Mama muss mal ah-ah“.
Es wird getan und gewickelt und gespielt, ein Odeur von Kacka weht übers Land. Väter laufen ganztägig der Festivität entrückt mit Babys auf dem Arm übers Areal und murmeln zärtlich-beruhigende Dinge. Mir kommen sie beinahe vor wie die „lebenden Bücher“ bei Bradbury, lediglich die Texte sind kindgerechter. Die Stoppuhr läuft mit, wenn es darum geht, wie lange der Knabe diesmal benötigt, sowohl die Tischdecke wie auch sich selbst, seine Eltern, seine Schwester und die Tischnachbarn komplett mit Schokolade zu überziehen. Hurra, das war Rekord! Karsten, hörst du? Das war Rekord! Karsten hört nicht, denn der Geräuschpegel der Feier degradiert Menschen zu Fischen: Mund auf, Mund zu, zu hören ist nichts außer einem sehr eigenartigen, hochfrequenten Blubbern. Der langhaarige Single-Typ ohne jeden Anhang kichert tief und kehlig, halbwegs fassungslos angesichts all der Kurzen. Hatte ihn wohl niemand drauf vorbereitet.
Aber nicht nur alles Tun und Werden, so hat man den Eindruck, ist dem Nachwuchs untergeordnet, auch die Gesprächsführung, wie sie während ruhigerer Momenten unter den Erwachsenen zustande kommt. Die Konversation wird ständig in die entsprechenden Bahnen gelenkt: der Nachwuchs und seine Befindlichkeiten. Im Idealfall geht es um die eigenen Befindlichkeiten im Spiegel der Befindlichkeiten des Nachwuchses. Die freudig erregt vorgetragene Diagnose eines Ich-Verlusts. Und derweil wird jedes unartikulierte Quieken aus dem Sandkasten von einer Menschentraube wohlwollend beklatscht. Das alles ist soweit keine bahnbrechend neue Erkenntnis, aber in dieser Konzentration bekommt man sie selten verabreicht.
Wir als kinderloses Paar sitzen etwas abseits auf der Bank in der Sonne und spötteln leicht über diese oder jene Hegemaßnahme, aber wir wissen zugleich: Es ist nur ein Aufbäumen gegen die letztgültige Erkenntnis, dass diese Menschen dem Befehl von oberster Stelle nachgekommen sind, dass sie auf der richtigen Seite sind, während es uns in etwa so ergehen wird wie Robert Neville im Roman von Matheson: Wir sind Legende. Wenn die Natur ruft, werden wir unsere ungenutzten Gene freiwillig unbetrauert in die Grube rollen und mit Mutter Erde wiedervereinen. Staub und Schatten: Unsere Spuren werden verwehen und zerfallen und absorbiert werden, während auf das Wohnviertel von Lilith und Pelle, Liliane und Sven-Oliver, Thure und Rose und ihren eigenen unartikuliert quiekenden Nachwuchs lieblich die Sonne scheint.
Ganz so schlimm war der Blues dann allerdings doch nicht. Sonst hätten wir gewiss den herrenlosen, barfüßigen Knaben mit nach Hause genommen, den der Hausmeister des Veranstaltungsorts neben unserer Bank abstellte, mit einem anklagenden Blick und der Bemerkung: „Der wollte gerade draußen über die Hauptverkehrsstraße laufen!“ Als Antwort lediglich ein entspanntes Schulterzucken: „Ist nicht unserer.“

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