Sonntag, 9. Dezember 2007

In memoriam again

Neulich ist übrigens Herr Stock gestorben.
Als mein jüngerer Bruder auf der Bildfläche erschienen war, verließen meine Eltern die Mietwohnung (50 Mark Monatsmiete) und bauten ihr Eigenheim im damaligen Neubaugebiet des Dorfs. Einige Zeit darauf setzte eine schon etwas betagtere Kleinfamilie von außerhalb ihr Fertighaus schräg hinter uns. Als viele Jahre später deren Vater starb, ließen Frau und Tochter (und mittlerweile aufgetauchte Enkel, aber diese Geschichte ist jetzt zu kompliziert) Papa/Opa umbetten und zogen zurück in ihre Heimat.
Ihr Haus kaufte Herr Stock und wurde damit unser neuer Nachbar. Auch er stammte irgendwo von außerhalb. Er arbeitete bei einer Bank in Luxemburg, war wohl etwas über Vierzig, alleinstehend, hatte mal Familie gehabt, war aber offensichtlich von der geschieden, und brachte eine Hauskatze mit. Die kleine Miezi, die sich nie draußen blicken ließ. Kurz darauf besaß er zwei weitere aus dem Tierheim, die sich kaum drinnen blicken ließen, und ab 1989 prügelte sich unser Kater mit Herrn Stocks Kater, als ginge es um nichts Geringeres als die Weltherrschaft. Die Nachbarschaft ertrug das Geschrei und Gefetze mit Würde.
Herr Stock war immer sehr nett und freundlich, eine Seele von Mensch, blieb aber stets der etwas zurückgezogen lebende, fremde Nachbar, der sich in Dorfbelangen nicht sonderlich engagierte, ein vollbärtiger Pfeifenraucher und Hifi-Freak, der dauernd UPS-Pakete mit neuen Technik-Komponenten bekam. Den Dachboden hatte er zum Hifi-Studio umgebaut. Irgendwann kaufte er sich auch ein Oldtimer-Auto, das aber stets nur in einem abgesperrten Carport neben dem Haus stand und nie in Benutzung war. Als im Jahr 2000 unser Kater starb, bekam Herr Stock mit, wie wir ihn im Garten begruben, rannte ins Haus und kam mit einer Rose (und Tränen in den Augen) zurück. Die Rose legten wir nach getaner Arbeit aufs Katergrab und schnieften uns eins.
Herr Stock hat in den 90ern auf dem Weg zur Arbeit mal einen schweren Autounfall gebaut, von dem man nicht jedes Detail erfuhr. Er war offenbar schuld, und es gab Tote, mindestens einen. Herr Stock selbst war auch schwer angeschlagen, weniger körperlich denn psychisch, die Rekonvaleszenz glitt unmerklich in Arbeitsunfähigkeit über. Führerschein hatte er jetzt auch keinen mehr. Es gab manchmal psychische Probleme, die durch zu viele oder zu wenige Medikamente verursacht wurden. Es war alles etwas unklar und entzog sich den üblichen Tratschkanälen, weil Herr Stock eben so alleinstehend war. Mein Vater musste einen stark verwirrten Herrn Stock einmal mehr oder weniger vor sich selbst retten. Lediglich unsere damalige Post-Ausfahrerin, die zugleich bei Herrn Stock putzte, konnte die Außenwelt mit rudimentären Informationen über seinen Haushalt versorgen, aber auch das blieb Episode.
Herr Stock heiratete noch mal, eine jüngere Frau aus dem Bankenwesen, die sich um ihn kümmerte. Als Herr Stock dann Lungenkrebs bekam, begann dieses monströse Auf und Ab, das man niemandem wünscht. Manchmal fuhr er die ganze endlose Strecke mit dem Bus zur Chemotherapie. Er hielt sich ausgesprochen lange, Jahr um Jahr. Zuletzt hatte seine Frau ihn in ihrem eigenen Haus in einem Nachbarort untergebracht, ehe es von dort ins Trierer Hospiz ging.
Ich wäre gerne zu seiner Beerdigung gegangen, aber der Umzug nahm mich zu sehr in Beschlag. Manfred Stock in memoriam. Ich werde wohl im Frühjahr mal ein spontanes Wiesenblümchen auf sein Grab legen.

Samstag, 1. Dezember 2007

Öfter mal rütteln

Jetzt ist der Fernseher kaputt. Wurde auch langsam mal Zeit. Das olle Tevion-Aldi-Ding hielt ewig. Eigentlich ist es ja auch nur halb kaputt. Der Fernseher funktioniert noch tadellos, allerdings ist beim umzugsbedingten Aus- und Einstöpseln sein einziger Scart-Anschluss hops gegangen. Er war wahrscheinlich im ständig eingestöpselten Zustand in der alten Bude schon hart an der Grenze, aber nun ist er ganz hinüber. Man kann keine Zusatzgeräte mehr anschließen, was natürlich fatal ist. Keine DVDs mehr guckbar. Untragbarer Zustand. Der Fernseher liefert auf dem AV-Kanal zwar den Ton, aber kein Bild. Da der Anschluss eines einzigen Zusatzgeräts an einen Fernseher via Scart so ziemlich das Einfachste auf der Welt ist, hat es mich doch sehr gewundert, warum das bei mir nicht funktionierte. Immer nur schwarzes Bild. Kann ein einzelner Mensch so dumm sein? Nein, entschloss ich für mich selbst und kam zu der Meinung, da müsse etwas kaputt sein. Ich rüttelte bei laufender DVD hinten am Scart-Anschluss herum, und siehe da: Kurzzeitig war das Bild da, dann wieder weg, dann wieder da. Der Spielraum fürs Funktionieren bzw. Nichtfunktionieren beträgt etwa einen Drittelmillimeter. Man kann die Sache mit Klebeband arretieren und das Bild kurzzeitig stabil halten, aber wenn man dann versehentlich hustet oder draußen ein Laster vorbeibrettert, wird’s wieder schwarz wie die Nacht.
Ich schätze, jetzt ist langsam mal ein 32-Zoll-LCD-Ding angesagt. Die kosten heute auch nicht mehr die Welt.

Mittwoch, 7. November 2007

Faded away

Hmm, tja, wenn man’s wüsste …
Amazon.de erzählt mir gerade, die CD „Electric Medicine“ von Greg Sage sei am 10.10.2007 erschienen, und will sie einem als (teuren) Import besorgen. In vier bis sechs Wochen. Es ist das erste Mal, dass es von diesem Album in Deutschland überhaupt ein Lebenszeichen gibt. Nett gemeint, Amazon, aber ich bleibe weiter skeptisch.
Auf diese Platte wartet die Welt nämlich seit langem vergeblich. Es wird allenthalben in den Katalogen behauptet, sie sei 2002 erschienen, aber offenbar ist sie nie irgendwo aufgetaucht außer in eben diesen Katalogen. Beim Endverbraucher kam sie jedenfalls nicht an, Greg Sages Website weiß nichts von ihr. Der gute Greg hatte mal fallenlassen, dass er an dem Projekt, seiner dritten Solo-Platte, arbeite, und das muss so im Jahr 2000 gewesen sein, kurz nachdem er seine letzte Wipers-Platte „The Power in One“ fertiggestellt hatte.
Danach setzte er sich offenbar mit seinen Hündchen auf die Veranda, blickte jahrelang in Nachbars Kirschbaum und schaukelte und schaukelte, während seine Gitarre drinnen im Haus verstaubte und verstimmte und schließlich ganz verstummte.
Mann, das ist verdammt schade, Greg. Der Vordenker und Gitarrenmaestro der legendären Wipers ist wohl einfach irgendwie verblasst und hat das Interesse vollständig verloren. Na gut, es passt wohl auch zu ihm: anti-kommerziell bis ins Mark, ein Punkrocker der etwas anderen Sorte, der 1977 in Segeltuchschuhen, Flanellhemd und Jeansjacke antrat, als „Punk“ gleichbedeutend war mit Stachelfrisur und Sicherheitsnadel in der Backe. Damals hat man ihn deswegen nicht recht ernst genommen, etwas später waren diese Art von Punks ein Synonym für Haste-mal-ne-Mark-Penner, während der Wipers-Look sich durchsetzte und die Band zum herausragenden Vertreter der Strömung aufstieg. Aber Greg Sage scherte sich natürlich nicht um irgendeinen Look, er kommunizierte ausschließlich über die E-Gitarre mit der Gesellschaft und erwies sich dabei als anrührender Autist. Ein irgendwie kreativ Gestörter, der statt eines Soundchecks vor Konzerten die Gitarre anstöpselte, sie voll aufdrehte und gleich neben die Box stellte, um dann minutenlang hockend oder im Schneidersitz den Rückkoppelungen zu lauschen, die aus dem Equipment pfiffen. Welche Erkenntnisse er daraus bezog, erfuhr man nicht, aber man konnte darauf hoffen, irgendwas davon auf dem nächsten Studioalbum zu hören. Dabei konnte man noch froh sein, ihn überhaupt mal live zu sehen, denn die Wipers waren ursprünglich vorgesehen als reines Studio-Projekt. Ein Angebot von Kurt Cobain, die extrem erfolgreichen Nirvana auf einer US-Tour zu begleiten, lehnte Sage dankend ab. Er wäre dadurch möglicherweise doch noch zum Star geworden. Nee, kein Interesse, Kurt. Übernimm du diesen Part mal.
Schlicht und einfach: Die Wipers waren die beste und verzehrendste Punkband, die es jemals gab. Sage transformierte und ziselierte sein Trio über die Jahre hinweg von der zornigen Druck- und Dresch-Kombo zur dunkel swingenden, traurigen, urbanen Bluesband, die den Punkrock zu existentialistischen Hall-Geräuschen mystifizierte. SPEX meinte gegen Ende der 80er treffenderweise mal, die Songs seien "große, schlingernde Kähne". Die zweite 80er-Hälfte der Wipers war wie ein heraufziehendes Gewitter, das auf seine Entladung wartete, die 90er eine mystisch wispernde Riff-Dekade mit lediglich drei Alben und einer einzelnen schwebenden Solo-Platte von vollendeter Schönheit. Dunkel-schlammiger Urgrund, aus dem heraus klirrend kalte Melodiebögen gen Himmel abgeschossen wurden. Wunderwerke für gestählte Gehörgänge, denn selbst Greg Sages traurigste Ballade war laut, laut, laut, und selbst die strukturell poppigsten Songs waren mit einem ungeheuren Soundbrett verstärkt. So entstanden unverschämte Kontraste: hochsensible Songs mit bunkerdicken Wänden. Sage paraphrasierte stets den Zusammenhang und Widerspruch zwischen Welt und Universum und Individuum, nach außen gedröhnte Verinnerlichungsstrategie. Seine Alben sind die größten Schätze, die die Plattensammlung eines Mystikers beherbergen kann.
Und dann sollte „Electric Medicine“ kommen, aber es kam nie.
Irgendwie ist Greg Sage offenbar selbst zu einem Echo in seinem Hall-Universum geworden. Wir werden seiner gedenken und seine Platten weiter rauf und runter hören. Und, tja, wer weiß? Vielleicht ist diese angebliche Publikation von „Electric Medicine“ ja doch keine Ente. Es wäre jedenfalls zu schön, um wahr zu sein. Diese Sache muss dringend recherchiert werden, also einfach mal bestellen, das Ding, und gucken, was passiert.

Samstag, 3. November 2007

Michel verbieten!

Da zappe ich gestern am Kinderkanal vorbei und bleibe hängen. Es war Michel aus Lönneberga, einer der episodischen 90-Minüter. Lange nicht mehr gesehen. Und ich war von dem, was ich da zu sehen bekam, ehrlich entsetzt. Man müsste diese Filme eigentlich verbieten.
Es ist Sommer, Michel ist schon im Schlafrock und spielt mal wieder einen Streich. Der Vater jagt ihn in den Schuppen. Der Junge macht nun Folgendes: Erst spannt er einen Holzklotz in eine Klemme, sägt mit einer riesigen Säge ein passendes Stück davon ab, greift sich sein mordsmäßig scharfes Schnitzmesser und beginnt damit, ein Männchen zu schnitzen. Erst im Stehen, danach setzt er sich hin, schiebt seinen Schlafrock etwas hoch und klemmt sich den Klotz zwischen die nackten Beine. Und schnitzt mit einigem Kraftaufwand fröhlich weiter, dass die Späne fliegen, das lebensgefährliche Messer immer nur Zentimeter von Fingern oder Beinen entfernt. Und sauber ist dieses Messer erst recht nicht. Was da Keime drankleben müssen!
Es ist mir damals als jugendlicher Zuschauer wohl nicht so aufgefallen, aber heute weiß ich: Es ist skandalös. Womöglich macht noch ein Kind das nach. Setzt sich in seinem Zimmer unbeobachtet halbnackisch hin, greift sich ein gefährliches, womöglich sogar dreckiges Messer aus Papas Kellerkiste und schnitzt an irgendeinem Klotz herum, den es zuvor aus seiner Kinderzimmerschrankwand gesägt hat. Wenn seine Mami ins Zimmer kommt, platzt ihr vor Schreck eine Herzkammer.
Es gibt viele weitere solcher Szenen in dem Film. Brisante Schlittenfahrten ohne Fahrradhelm. Sprünge aus zwei oder mehr Metern Höhe ins Heu. (Kann da nicht mal jemand nachsehen, ob eventuell noch die Heugabel da drunter liegt, Menschenskind?) Hautenger Kontakt mit einer Vielzahl unsauberer Tiere. Ungesunde Speisen mit viel zu viel Fett. Dazu essen mit den Fingern, ohne vorheriges Händewaschen. Überhaupt ist die Körperhygiene nicht optimal. Es gibt nur dieses leichtfertige Schwimmen in einem tiefen Gewässer, und das bei einbrechender Dunkelheit. Ungesicherte Turnereien auf einem 1,50 Meter hohen beweglichen Gatter. Als der Junge seinen Kopf in der Suppenschüssel stecken hat, haut die Mutter mit dem Schürhaken drauf. Mit dem Schürhaken! Als nach einer Schlittenfahrt der Knecht das schwere Gefährt die Steigung hochzieht, schiebt der Junge angestrengt von hinten. Würde der Knecht auf dem glatten Grund ausrutschen, dann würde der Schlitten nach hinten wegflitzen und den Knaben mit den Kufen überfahren. Mit den Kufen!
Dazu verschwindet der Junge regelmäßig stundenlang im Wald, ohne Handy und alles.
Mann, Mann, Mann. Ich weiß wirklich nicht, ob man diese Filme heute noch zeigen sollte. Hohes Gefahrenpotenzial. In den USA wäre der Kinderkanal nach der Ausstrahlung sofort verklagt worden. Eventuell ginge es mit einer Dauereinblendung: „Dies zu Hause bitte nicht nachmachen!“

Mittwoch, 24. Oktober 2007

Sprachstudien

Gestern abend lief im ZDF die „37 Grad“-Reportage. Es ging um Menschen, die „keine(n) abgekriegt“ haben und beziehungslos geblieben und zum Teil auch im Alter von Ende 20 oder Mitte 30 noch Jungfrau sind. Ich fand es lustig, wie einer der männlichen Porträtierten versuchte, sprachlich um den Begriff Masturbation herumzulavieren. Er sprach von „Hand an sich legen“ oder „Beschäftigung mit sich selbst“. Man kann so etwas natürlich auch anders ausdrücken, und es weckt den Ehrgeiz des Sprachforschers. Eine kleine Netz-Recherche brachte hinlänglich Bekanntes, aber durchaus auch Verblüffendes zutage, hier allein bezogen auf das männliche Geschlecht:
Fünf gegen Willi spielen; die Anakonda würgen; dem Arbeitslosen die Hand schütteln; Banane schälen; bommeln; den Beppo hetzen; den Säbel schleifen; die Wurst pellen; Ein-Mast-Segeln; am elften Finger ziehen; die Fleischpeitsche polieren; die Gurke rütteln; den Handpanzer fahren; Hansi auswringen; den Kaspar schneuzen; die Einhandflöte spielen; Solo auf der Teufelsklarinette; den Schimmel von der Palme schlagen; den Lurch würgen; Manuela; Mütze-Glatze spielen; die Pelle wemsen; die Pfeife ausklopfen; den Zyklop zum Weinen bringen; mit Frau Faust ausgehen; dem Außenminister die Hand schütteln; einen Termin bei Dr. Schlacker haben.

Freitag, 19. Oktober 2007

Käffchen

Gestern waren der kommende Bestseller-Autor Frank Jöricke und ich ein Käffchen trinken. Er hatte einen geschäftlichen Termin in Köln, und da trifft man sich doch gerne mal. Fahre zum Neumarkt, um zwischen schicken asiatischen Strichjungen und verruchten Bars den Friesenwall hochzuflanieren bis zum Gerling-Areal mit seinem „ornamentlosen Monumental-Klassizismus“ – und seinen geschniegelten Anzugträgern, die die Gegend dominieren. Man kommt sich, unrasiert und in Cord-Jeans-Jacke, beinahe schäbig vor. Und benötigt eine Dreiviertelstunde, um den ganzen Block zu umrunden. Es war gestern zum ersten Mal dieses Jahr richtig kalt, und um Gerling herum ist es im Allgemeinen noch kälter. Ich stand ein bisschen vor dem Treffpunkt herum und ließ mich von einem kleinen Hund, irgendsoein Rauhhaarpinscher, anbellen, den eine Autofahrerin in ihrem BMW zurückgelassen hatte. Ich bellte zurück, aber ganz leise, damit Passanten mich nicht für einen Vollidioten hielten. Das Bistro war eines, das echt italienische Kaffeekultur servierte: Ohne Milch im Gesöff stirbt man den sofortigen Herztod. Wir waren mehr oder weniger allein und konnten in Ruhe über gemeinsame Bekannte und die Dorftrottel lästern. Der Autor schnorrte eine Zigarette und spendierte dafür den Kaffee.
Er hatte zwei Tage zuvor seine erste Lesung in der Heimatstadt, und die Leute zeigten sich überrascht, dass er seinen Roman nicht bei einem Regionalverlag publizierte, sondern draußen in der großen weiten Welt – in Münster. Also, so die vorherrschende Meinung, muss das Buch etwas Besonderes sein, wenn welche außerhalb Triers es gut finden. Meine Lebensgefährtin nahm meine Abwesenheit zum Anlass, fraglichen Roman nun endlich mal von hinten bis vorne komplett zu lesen. Als ich zurückkehrte, quiekte sie noch vergnügt. Danach schauten wir gemeinsam „Frauentausch“ auf RTL 2 und diskutierten dumme Menschen aus.
So, das war mein Tag …

Donnerstag, 11. Oktober 2007

Gebührenfinanziert

Als Mitte September das Bundesverfassungsgericht die Begrenzung der TV-Gebühren durch die Länder für unzulässig erklärte, jubelte WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn in den Tagesthemen und tat beinahe so, als ginge aus seinem Hintern gerade die Sonne auf. Er gab das übliche Blabla von sich und machte seinen Verein für kontrollierte Blähungen zum bedeutsamen Bestandteil des planetaren Gefüges. Die öffentlich-rechtlichen Sender seien in ihrem Informations- und Bildungsauftrag gestärkt worden, während das dumpfe U-Fernsehen weiterhin den Privaten überlassen bliebe. Für die Zuschauer bedeutet dies natürlich baldige Gebührenerhöhungen, aber als Gegenleistung werden sie dafür von der ARD schlau gemacht.
Wie Herr Schönenborn sich diesen Bildungsauftrag vorstellt, konnte man soeben in „Pilawas großes Geschichtsquiz“ bewundern. Hier wurde jedes noch so niedrige Privatfernsehniveau mit einer imponierenden Mühelosigkeit unterschritten. Ein dummer Moderator befragt saudumme, möglicherweise sogar betrunkene Promis zu Skurrilitäten der Weltgeschichte, vorgestellt in Einspielfilmchen, in denen Wesen wie Mirja Boes oder Guido Cantz historische Figuren darstellen oder Blähbacken wie Nina Ruge geschichtliche Spekulationen zum Besten geben dürfen. Die letzte Ptolemäerin Kleopatra VII., die mit dem Rücken zur Wand für die Autonomie des letzten hellenistischen Königreichs kämpfte, wird von Mirja Boes verkörpert, einer Person, die in Discos auf Mallorca selbstreferentielle Lieder über Saufen und Ficken oder so was grölt. Zusammengestellt wurde dieses ganze Zeug von einer Redaktion, die von den öffentlich-rechtlich vorgeschriebenen siebeneinhalb Arbeitsstunden offenbar sechs mit Klebstoffschnüffeln verbringt. Der Rest ist ohnehin Mittagspause.
Natürlich ist das alles Etikettenschwindel. Es hat mit „Geschichte“ nichts zu tun, sondern ist dumpfes Entertainment von ganz unten, das nicht etwa bildet, sondern sich im Gegenteil die Ergebnisse der Pisa-Studie aneignet: Bloß nicht zu anspruchsvoll, sonst ist irgendwer möglicherweise überfordert und schaltet zu „Alarm für Cobra 11“.
Das Promi-Siegerteam, also dasjenige Paar, das am häufigsten aus Versehen die richtige Lösung gedrückt hat, kriegt aus unseren Gebühren 10.000 Euro, die dann einem Kinderhospiz gespendet werden. Warum überweist die ARD nicht gleich 10.000 Flocken, plus die stattlichen Produktionskosten dieser Prime-Time-Megascheiße, an die sterbenden Kinder und sendet stattdessen zwei Stunden Testbild? Also, ich hätte da durchaus Verständnis für.

Mittwoch, 5. September 2007

Bieder

Die Trierer Tageszeitung verkündet einem unter einer Art Dauerbeschallung, dass hier bald das Alan Parsons Project live auftreten wird. Trier ist offenbar diejenige Stadt, die am meisten von Wiedergängern heimgesucht wird, denen der Atem des Grabes aus dem Schlund weht.
Vor 25 Jahren hätte ich mich vor Freude benässt. Alan Parsons kommt in die Stadt, heilige Scheiße!
Weihnachten 1980 bekam ich eine Platte von ELO geschenkt, das war abgesprochen, aber mein Vater besorgte eine zusätzliche LP und hatte anscheinend beim Verkäufer nachgefragt, was denn wohl „so ähnlich“ klänge. Es lief auf Turn Of A Friendly Card heraus, die damals aktuelle Scheibe besagten Alan Parsons Project. Mein Vater lag goldrichtig, ich wurde Dauerhörer dieser, nun ja, ähem, Band und kaufte bald darauf alle verfügbaren Alben zusammen. Das ging so etwa bis 1982 und dem Album Eye in the Sky, bevor der Enthusiasmus abflaute.
Alan Parsons war ja gar kein Musiker, sondern Tontechniker, der sich zu Höherem berufen fühlte. Einer meiner Kumpels damals gebärdete sich ebenfalls als großer Fan von ihm und seinem Projekt und war der Auffassung, die Platten seien von hoher Qualität. Damit meinte er nicht die musikalische Qualität, sondern die technische, denn er war ein erblühender Hifi-Freak. Alles toll und sauber produziert. Hör mal diese Bässe, und erst dieses total klar herausstechende Keyboard, Mannomann! Und dieser Gesang, da hört man jede Nuance! Ja, Alan Parsons Project war genau das Richtige für kleine Nachwuchs-Wohnzimmerbeschaller und Stereo-Bastler.
Musikalisch erwies es sich leider als Gedöns, sobald man auf den Trichter kam, vom wem Alan Parsons und sein federführender Kumpel Eric Woolfson so alles geklaut hatten. Die Herren boten ihre eigene Version des Progressive Rock, der schon seit 1968/69 operierte und Zeit gehabt hatte, sich zu entwickeln und zu verzweigen. Parsons/Woolfson destillierten seine Substanz zu kommerziellem, kaltherzigem, technophilem und nicht zuletzt technokratischem Session-Pop-Geschwurbel, zusammen mit freiberuflich tätigen Begleitmusikern, die wie das agierten, was sie waren: Söldner. Kompetent, aber leidenschaftslos. Und dann ständig diese kulturell wertvollen Konzeptalben, die suggerierten, hier gäben gedankliche Tiefe und musikalisches Können einander die Hand … Parsons und Woolfson waren diejenigen, die den Progressive Rock endgültig für die Klientel der heranwachsenden Biederlinge und Bankkaufleute instrumentalisierten, die Bartflaumabrasierer, diejenigen, die eigentlich keine Ahnung von Musik hatten, sich aber dennoch vorgaukeln wollten, sie hätten Geschmack. Rock-Apokalypse. Woolfson fabrizierte nach seinem Bruch mit Parsons übrigens Musicals. Muss man mehr wissen?
Eye in the Sky von 1982 hatte ein Science-Fiction-Thema, irgendwas mit Satelliten und Überwachung und so was. Ein halbes Jahr später entdeckte ich eine andere SF-Platte, ebenfalls ein Konzeptalbum. Es war Doremi Fasol Latido von Hawkwind, damals schon zehn Jahre alt. Der Kontrast hätte nicht krasser ausfallen können. Es war der Aufbruch aus dem Land der Parsons-Berieselung in die Gefilde des aggressiven, schlammigen Rock, der Hifi-Freaks das Fürchten lehrte und Bewusstseine in Dimension sieben katapultierte. Es kam so langsam die Zeit des unkontrollierten Bart- und Haarwuchses, der ersten Military-Jacken, der Rock-T-Shirts, des Headbangens, der naiven politischen Diskurse und der Rebellion. Der Rebellion gegen Alan Parsons und das, was er mit der Musik und meinen Altersgenossen anrichtete.

Montag, 3. September 2007

Zeitläufte

Grenzgebiet. Der Fluss macht hier einen ziemlich deutlichen Knick, und mitten durch den Fluss verläuft die Grenze zu Luxemburg. Also macht die Grenze den Knick mit, und wenn mal jemand aus dem Tal der Ahnungslosen, also aus Köln zum Beispiel, fragt: „Mein Gott, wo ist das denn?“, dann kann ich im Fall einer zufällig gerade vorliegenden Deutschlandkarte genau auf den Knick zeigen und sagen: „Da!“.
Ich stehe neben dem Bier- oder Bratwurst-Stand auf dem Pfarrfest und wärme mit dem einen oder anderen alten Bekannten Kindheitsgeschichten auf. Einer stellt mich seiner Tochter vor und fragt sie, ob sie denn wisse, wer ich bin. Das Mädchen verneint. Also erzählt er die Kurzfassung unserer gemeinsamen Jugend, und das Mädchen wird ungeduldig, unterbricht und bittet darum, wieder zu seinen Freundinnen zurückzudürfen. Wunsch gewährt, wir sind ohnehin mordslangweilige Typen. Von uns kannst du nichts mehr lernen, Mädel.
Unsere Generation damals hat das Wegbrechen der traditionellen Land- und Forstwirtschafts- und den Schwenk zur Dienstleistungsgesellschaft erlebt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Damals war man noch zu sehr damit beschäftigt, die Kindheit auf dem Bauernhof möglichst für selbstverständlich zu nehmen. Wir wussten es nicht besser. Wir hatten ja keine Ahnung, wie armselig die Kinder in der Stadt so großwerden mussten. Kein Kuhumtrieb, keine Turnereien auf dem Heuboden, keine aufregenden landwirtschaftlichen Geräte, kein Traktorfahren, keine Fahrradakrobatik auf völlig autofreien Straßen, kein Studium an Kadavern überfahrener Kleintiere, keine Geheimverstecke auf dem stillgelegten Bahndamm oder in gesprengten Westwall-Bunkern und keine Bindung an die Natur und ihre Abläufe. Urlaub? Hatten wir nicht nötig, denn wir hatten genug unentdecktes Land um uns herum zu erforschen. Jahrelang. Es gibt bis heute Gegenden in der unmittelbaren Umgebung, die ich noch nie betreten habe. Aber wie es so geht: Die Bauern hatten letztendlich keine Erben und gaben die kleinen Betriebe nach und nach auf. Acker- und Weideland ging durch Pacht oder Verkauf in die Hände luxemburgischer Großbetriebe über. Andere Schollen wurden zu Neubaugebieten deklariert und von Banken aus dem Bitburger Raum erschlossen. Die Nebenerwerbslandwirte gaben als erste auf oder starben einfach weg.
Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich die Jugend wahr, die hier beim Pfarrfest mitmacht und herumsteht und trinkt und palavert. Von einigen der jungen Leute weiß ich, zu wem sie gehören, von anderen nicht, aber zu keinem von ihnen habe ich jemals nennenswerten Kontakt gehabt.
Ich war auch mal so alt wie die heute, fällt mir ein, war auch mal Einwohner dieses Dorfs, zu Zeiten der Heubodenromantik, Mitglied der Gemeinde, Vorleser in der Kirche, habe bei der sakramentalen Wandlung gekniet und innige Zwiesprache gehalten mit dem, von dem alle behaupteten, dass es da vorne göttlich herumwabere. Mitglied dieses einen Musikvereins war ich, dessen legere Uniform die jungen Leute heute tragen. Alle sind sie sehr selbstbewusst, alles ist ihnen selbstverständlich, sie sind stattliche, moderne Erscheinungen. Sogar ein paar Piercings sind zu bewundern, eventuell hat dieser oder jener von ihnen ein schickes Tattoo, und dieses eine Girlie da sieht mir ganz danach aus, als trüge es ein Arschgeweih. Es ist jedoch zu kalt, es offen zu zeigen und meine Vermutung zu bestätigen.
Sie alle reden über die Dinge des Lebens und die Angelegenheiten des Dorfs, als seien sie ein Teil von ihm, als hätten sie jetzt schon oder zumindest bald hier was zu sagen. Tja, und das trifft ja wohl auch zu, irgendwie. Einige von ihnen sprechen den Dialekt nicht mehr, sondern Hochdeutsch. Sie sind hier ganz selbstverständlich aufgewachsen, kuschelig behütete Kinder der Dienstleistungsgesellschaft, allzeit mobil und in einem Elternhaus, das in einem Neubaugebiet steht, das damals Wiese war. Eine Wiese, auf der wir zu unserer Zeit Schlitten gefahren sind oder Kühe gehütet haben. Auf der wir brandgefährliche, verrostete WK-II-Munition gefunden haben, die jemand von uns – ich weiß noch, wer – einfach mal abfackeln wollte, um zu schauen, was wohl passiert.
Sie kannten nicht den Grundschulleiter Herrn Schleimer, keinen autoritären Pastor mit Habichtnase, sondern sind nur vertraut mit diesen teigigen, modernen Priestern in ihrer verständnisvollen Weichheit. Die spricht man nicht mehr mit einem ergebenen „Herr“ an; bestenfalls tun das noch die rosenkranzratternden Bet-Omas, aber auch die sterben langsam aus. Heute fungieren Mädchen als Messdiener, die Töchter jener übrigens, die zu meiner Zeit selbst Messdiener waren und die bloße Idee von Mädchen vor dem Altar für lächerlich hielten. Die Messdienerei damals war das autoritärste Milieu, dem ich bis heute begegnet bin; selbst die Bundeswehr war humaner, aber das war wohl eine Frage des jeweiligen Alters und des eigenen Umgangs mit dem Milieu. Wir Messdiener wurden von einem Pfarrer alter Schule gebrieft und getrietzt und auch schon mal angeschrien und zur Sau gemacht, und untereinander gab es eine ziemliche Hackordnung. Nach der Erstkommunion war man dieser erzwungenen Ordnung ausgeliefert, die Vorstellung, sich dem zu verweigern, überstieg den damaligen Horizont. Und wenn man, im Gegensatz zu allen anderen Buben, in die große Stadt aufs Gymnasium ging, glaubten die, man hielte sich nun für etwas Besseres – auch wenn man sich gar nicht so verhielt – und müsse zurechtgewiesen und untergebuttert werden. Sie waren natürlich nicht mal ansatzweise in der Lage zu begreifen, dass sie selbst es waren, die sich da gerade für was Besseres hielten. Es sei ihnen verziehen. Heute sind sie dafür alle dick.
Die jungen Leute, die jetzt im Musikverein spielen und sich engagieren, kennen Herrn Fürst vermutlich nur noch vom Hörensagen. Über lange Jahrzehnte war er Herz und Seele dieses Vereins. Generationen von Dorfmusikanten verdanken ihm ihre Ausbildung. Mag sein, dass die älteren der Jungen ihm noch begegnet sind, aber erlebt haben sie ihn gewiss nicht mehr. Für Herrn Fürst war ich damals ein Hoffnungsträger, der in diesem Verein etwas werden sollte. Alle beteiligten Instrumente sollte ich lernen, alles spielen können. Er erkannte in mir ein Talent, das ich vielleicht sogar irgendwo tief drinnen tatsächlich mal besaß. Herr Fürst hatte da ein Auge für und wollte mich zu einer Stütze seines Vereins machen. Jahr um Jahr kam ich freitagabends früher zur Probe, weil ich ihm half, all die Instrumente zu stimmen; es waren sicher dreißig Stück oder mehr. Jahr um Jahr arbeiteten Herr Fürst und ich allein im halbdunklen Saal vor: Saiteninstrumente stimmen und über tausend unwichtige Dinge quatschen. Der alte Mann und der hoffnungsvolle Zögling. Ich klinkte mich jedoch letztlich aus, weil ich zu faul war, aber hauptsächlich wohl deswegen, weil ich zu pubertären Zeiten erkannt hatte, dass es doch nicht meine Welt war, dieses Vereinsleben. Ich war inzwischen offenbar doch zu sehr Gymnasiast geworden und hatte mich von der Dorfgesellschaft entfernt. Ich habe dem alten Herrn den Gefallen getan, so lange aktives Mitglied im Verein zu bleiben, wie er am Ruder stand. Danach betraten andere die Brücke und ich verkrümelte mich. Die Jungmusiker von heute wissen bestimmt kaum noch etwas von Herrn Fürst, seiner Leidenschaft, seinem Aufbrausen, seiner Engelsgeduld, seinem Hinkebein und den Schmerzen, seiner Dickköpfigkeit, seinen Ehrennadeln und seinem hohen Ansehen, seinen gefürchteten Autofahrkünsten und den Blutschweißundtränen, die wir Mitfahrer oft ausstanden, wenn wir mit ihm in seinem Mercedes zu Konzerten düsten und schleuderten. Ihm wird ein ehrendes Andenken bewahrt, da bin ich völlig sicher, aber das ändert nichts daran, dass er für die jungen Musikanten heute nichts weiter mehr ist als ein schemenhafter Umriss. Und die jungen Vereinsmusiker kennen mich, den Ex-Hoffnungsträger, nicht mal mehr und taxieren mich merkwürdig. Wer weiß, was ihre Eltern, meine Altersgenossen, ihnen über mich erzählt haben. "Seltsamer Kauz", "Eigenbrötler". Sofern sie überhaupt etwas erzählt haben. Das macht jedoch nichts, denn ich habe es so gewollt.
Die Jugend hat auch die alten Originale nicht mehr parat. Meinen Großvater zum Beispiel, verstorben 1995 und in den Jahren zuvor nur noch ein Schatten seines alten Selbst, den die Jugend bestenfalls noch vage als „den Neckel“ in Erinnerung hat. Er neigte nicht zum Hochdeutschen und sprach mit meiner Freundin, damals in den frühen Jahren unserer Beziehung, natürlich Dialekt. Die Großstadtpflanze verstand kein Wort, mochte diesen gutaussehenden, kantigen alten Mann mit den völlig unpassenden, aber bequemen Turnschuhen nichtsdestotrotz spontan. Wenn jemand wie er lächelte, dann meinte er es auch so. Er war ein vitaler Teil der alten Bauerngesellschaft, er hatte den größten Hof im Dorf, und jahrzehntelang war er CDU-Bürgermeister der Gemeinde gewesen und hatte demzufolge häufig Kommunikation mit höheren kommunalen Ebenen pflegen müssen. Er besaß auch die Ehrennadel des Landes Rheinland-Pfalz. Soll heißen: Er sprach zwar irgendwie nie richtig Hochdeutsch und roch sehr angenehm nach Stall, war aber durch seine offizielle Position vergleichsweise weltläufig. Und kaum einer erinnert sich daran, dass bei seiner Beerdigung Unerhörtes geschah: Der Pastor, ja, der alte schwarze Habichtnasen-Diktator, fing in der Predigt, in der er die Lebensleistung des Verstorbenen beschrieb, mit dem Heulen an. Er fasste sich schnell wieder, aber das hätte ich nie und nimmer für möglich gehalten: dass dieser Mann zu solchen Gefühlsregungen fähig war! Er hatte Jahrzehnte mit meinem Opa in der Gemeinde zusammengearbeitet und gestritten, wie Don Camillo und Peppone, mit dem Unterschied jedoch, dass mein Opa kein Kommunist war, sondern wahrscheinlich noch schwärzer als der Herr Pfarrer.
Nun stelle man sich andere alte Männer vor, zehn Jahre mehr auf dem Buckel als mein 1908 geborener Opa, die in meiner Kindheit schon uralt und niemals aus diesem Dorf herausgekommen waren – und es auch nie wollten. Sie saßen auf Bänken vor ihren alten Bauernhäusern, hielten Hochdeutsch, Filterzigarettenraucher und Frauen ohne Kittelschürze für eine Verirrung der modernen Welt und wollten stets gegrüßt werden, wenn man an ihnen vorbeikam. Wenn man es nicht tat, wurde man zurückgepfiffen und musste es nachholen und kam sich vor wie auf dem Kasernenhof. Leute wie der alte Biesdorf, der, so hieß es, enorme Angst vorm Sterben hatte (und es dann doch irgendwann tat), Leute wie der alte Ziwes oder Markus’ Opa, dessen Name mir nicht mehr einfällt. Für mich sind sie heute schattenhafte Gestalten, alte Bäume mit runzliger Rinde, die da irgendwo im Nebel stehen und vor denen man immer noch ein bisschen Angst hat. Wenn ich auf Besuch bin und die Dorfstraße bis zum Fluss runtergehe, erwarte ich manchmal, den alten Biesdorf mit seinem Zigarrenstummel unterm Schnurrbart da auf der Bank sitzen zu sehen, und bereite mich darauf vor, ihn zu grüßen. Die Bank ist noch da, der alte Biesdorf indes fehlt.
Die Jugend von heute kennt ihn und seinesgleichen nicht mehr. Auch nicht die alte Frau Schatten und ihren stillen, weißhaarigen Herrn Gemahl. Frau Schatten gab Kindern für kleine Handlangerdienste stets ein Fünf-Pfennig-Stück und befahl: "Kauf dir ein Eis!" Dabei schaute sie so grimmig drein, dass man sich nicht getraute zu stammeln: "Aber ein ... ein Eis kostet zehnmal so ... viel, Frau Schatten!" Als es in den Siebzigern zu einer spektakulären Sonnenfinsternis kam, lud uns Frau Schatten - nomen es omen - auf ihren hochgelegenen Balkon ein und schwärzte uns über einer Kerzenflamme eigenhändig Glasscherben an, durch die wir das Ereignis beobachten konnten. Heute natürlich undenkbar. Die Kuschelpädagogen würden den Balkon stürmen und Frau Schatten von selbigem werfen und etwas von "irreparablen Netzhautschäden!" brüllen. Eine Menge derjenigen Kinder, die damals auf diesem Balkon standen, tragen übrigens bis heute keine Brille.
Die Dorfjugend verbindet auch nichts mehr mit dem Mädchen namens Stephanie, das mit dem behinderten Arm, das nach einem Unfall mit dem selbstgebastelten Skateboard starb. Oder mit der netten flachsblonden Christa, die in der Probe und bei Konzerten immer vor mir saß – und die mit 27 dem Krebs erlag. Sie wissen auch nichts mehr von meinem Grundschulfreund aus dem Nachbardorf, den eine amerikanische Soldatin mit dem Motorrad plattfuhr, von dem Mädchen aus dem anderen Nachbardorf, das sich an einer Schaukel erhängte. Oder dem kleinen Mädchen vom Bauernhof gleich an der Bundesstraße, das dort totgefahren wurde. Oder dem dicken, dicken Blutfleck, den ein verunglückter Mofafahrer Jahre zuvor eben dort hinterließ und der noch Monate danach zu sehen war. Wissen nichts mehr von den richtig großen Dorffesten in den richtig großen Festzelten auf der Wiese unten an der Bundesstraße und dem abgesperrten Bar-Bereich, in dem die Dorfmänner die harten Alkoholika zu sich nahmen, während sie glasigen Blicks Fotos von nackten Frauen musterten, die jemand aus der „Neuen Revue“ ausgeschnitten und dort angepinnt hatte. Vielleicht kam es, davon inspiriert, nach dem Festabend zu Hause sogar zu irgendwelchen Sauereien zwischen Eheleuten. Es waren schließlich die Siebziger.
Die Jugend kennt nicht mehr die total bekloppte Weiberfastnacht, während der die properen, katholischen Landfrauen derart austickten, dass wir Kinder Angst vor unseren eigenen Müttern bekamen, diesen durchgeknallten Seventies-Chicks. Sie verbindet natürlich auch nichts mehr mit meinem triumphalen Sieg beim Kindermaskenball - als Ölscheich. Mann, habe ich unter dieser fiesen Maske geschwitzt! Man konnte den ersten Preis auswählen: eine RiesenschachtelMon Cherie oder das Kinderbuch „Bommy will nach Indien“, die Geschichte eines im Zoo geborenen Tigerkinds, das in die Heimat seiner Eltern ausbüchst. Ich nahm Bommy und galt spätestens ab da im Dorf als Intellektueller.
Die jungen Leute haben keine Ahnung mehr von dem kleinen Postbüro in der Dorfmitte. Manche erinnern sich womöglich nicht mal mehr an den Tante-Emma-Laden gleich daneben, geschweige denn an den früheren Laden weiter oben im Dorf. Und von der alten, unwirschen, irgendwie tragischen Frau Zimmer und ihrer heruntergekommenen Kneipe haben sie auch keine Vorstellung mehr. Und dass sich durchs Unterdorf einst eine Eisenbahnbrücke spannte und wir Bengel und Bengelinnen noch lange nach der Bahnstillegung darauf herumgeturnt haben, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass man auf zwei Seiten sieben Meter tief fallen und sich auf dem Kopfsteinpflaster unten die Birne oder das Kreuz zerdeppern konnte. Undenkbar heute im Zeitalter der Kinderpsychenfrüherkennung und der Gefahrenabwehr.
Wie viele von den Jungdörflern haben zudem wohl Bodos monumentale Dorfchronik aus dem Jahr 1988 studiert und die Routen abgewandert, die der Autor beschrieben hat? Keine rechte Idee haben sie auch mehr von Mätti, dem Stalingrad-Überlebenden, einer Seele von Mensch und ganz sanft und höflich, aber berüchtigt dafür, unter Alkoholeinfluss so richtig vom Leder zu ziehen und die Geschichte seines persönlichen "Soweit die Füße tragen" zum Besten zu geben. Oder der asoziale Fuzzy, der im stillgelegten Bahnhof hauste mit seiner inzestuösen Kelly-Family-Sippe und den dreckigen Killerkötern ... Ach je.
Dann jedoch, während ich so gedanklich vor mich hin klage über das unverschämte Selbstbewusstsein und die gleichzeitige Unwissenheit der Jugend, werde ich von schräg hinten links Zeuge der Gespräche zwischen ein paar älteren Mitbürgern, die sich zusammengerottet haben, solche, die zur Generation meiner Eltern gehören oder sogar noch älter sind. Das, was sie sich erzählen und aufwärmen, sind für mich böhmische Dörfer. Ich bin fassungslos. Ich kenne kaum einen der Namen, die fallen, nicht mal die Örtlichkeiten. Ich versuche zuzuhören, aber ich verliere schnell den roten Faden. Mir kommt ein schlimmer Verdacht: Könnte es tatsächlich sein, dass mein eigener Grad der Unwissenheit mindestens genauso hoch ist wie der der Jugend?
Tante Ilse und ihre Cousine Rosemarie sind also damals mit zwei Ochsen über die Wiesen gezogen, hatten eine Heidenangst vor den Riesenviechern und waren doch todtraurig, als die Tiere vom Schlachter abgeholt wurden und der eine von der Pritsche herab noch einmal wissend mit den Augen rollte? Herrje, woher sollte ich solch traurige Geschichten kennen? Tante Ilse wohnt seit Ewigkeiten in Trier, Rosemarie bei Hamburg. Meine Mutter wurde einmal beim Kühehüten durch die Explosion einer Mine vom Zaun gefegt? O weh, das war mir neu. Eine ihrer Kühe war auf die alte Westwall-Mine getreten. Und wer ist wohl dieser mysteriöse Mann namens Hans, von dem manche noch reden und der mit meinem Vater auf den alten Fotos um die Wette posiert, an jedem Arm mindestens ein Fifties- oder Sixties-Girl, und der später nach Miami auswanderte? Ist der heute womöglich immer noch so cool? Hat er sich so gut gehalten wie sein offenkundiges Vorbild Peter Kraus? Und überhaupt: Wer sind denn diese immer neuen Mädels am Arm meines noch so jungen Vaters, meine Mutter jedenfalls ist nicht darunter! Und kann es wirklich sein, dass der nette Onkel Alfons, der heute stets von seinem tollen Smart, dem Live-Fußball auf Premiere und seinem Hochgeschwindigkeitsinternet berichtet, damals so ein heißer Feger war, dass kaum ein Fifties- oder Sixties-Girl sich seiner erwehren …? Und waren Tante Mathilde und Rosemarie tatsächlich mal kickelnde Hippies in einem blumenbeklebten VW Käfer? Und wie war das mit diesem schicken Cousin meiner Mutter, zugleich bester Freund meines Vaters, der bei diesem Scheißunfall zur Wehrdienstzeit umkam, kurz nach seinem Vater, einem Straßenarbeiter, der einer Sprengung zum Opfer fiel …
Die Geschichten werden immer spektakulärer und unglaublicher ...
Das Klagen hilft nichts, bemerke ich bei einem Blick in mein fast leeres Bier, und verdränge all die verwirrenden Details, die sich tummeln. Es sind die Zeitläufte, die elendigen. Die Generationen geben sich nun mal die Klinke in die Hand, und dabei bleibt jedes Mal ein bisschen was Banales, Unwichtiges zurück draußen im Nebel. Und das bisschen formiert sich irgendwann zu dem, was Vergangenheit ist, im besten Fall auch Erinnerung. Und dann stirbt es irgendwann weg mit jenen, die mal Teil davon waren. Es ist wahrscheinlich der Alkohol, der jetzt in meinem Kopf eine Stimme sprechen lässt, die sich verdächtig nach Rutger Hauer anhört und die so gar nicht in diese Pfarrfest-Kulisse zu passen scheint: "All diese Momente werden verloren sein in der Zeit." Ja, danke, Rutger, alter Replikant, dass du dich einmischst, aber werd nicht gleich pathetisch. Da kann man einfach nix gegen machen. Zeitläufte eben.
Ich trinke jetzt noch mein Bierchen aus, verabschiede mich mit einem Nicken in die Runde und gehe die alten Pfade bis zu unserem Haus hinunter. Der Weinberg, durch dessen Reihen man eine bequeme Abkürzung hätte nehmen können, ist längst nicht mehr da. Heute ist alles Wiese und eingezäunt, und es stehen schlafende Ponys drauf. Also ganz hintenrum, wo schon der Nebel aus dem Tal aufsteigt und die Käuze schreien.

Freitag, 31. August 2007

Sportaufnahme

Im Zusammenhang mit dem „Nachruf“ (s.u.) habe ich eine Mail von einem Ex-Kollegen erhalten, der heute im Auftrag eines großen Bankhauses Diktatoren in der Dritten Welt finanziert oder so was. Er erinnerte mich an einige unserer damaligen Lieblingsüberschriften aus dem Schlagzeilen-Generator. Die Ortsnamen sind dabei austauschbar.
Der Allzeitfavorit, jederzeit verwendbar ab einem Ergebnis von 4:0, lautete: „Die Tore fielen wie reife Früchte“.
Nach dem gemeinsamen Scrabble-Abend mit der Redaktion des Landser: „Dreis sprengte Brück in die Luft“, „Grün-Weiße stürmen Festung Röhl“, „Burg zusammengeschossen“ oder „Die Kanonade von Prüm“.
Unsere stärker triebgesteuerten Mitarbeiter versuchten es mit: „Pfalzel fickte Gutweiler“, scheiterten aber an der Sportredaktion.
Mann, Mann, Mann … Wieso haben wir eigentlich nie einen von diesen Scheißnachwuchspreisen bekommen, sondern immer nur diese Strebervolontäre? Das war schließlich die meistgelesene Seite der Zeitung.

Donnerstag, 30. August 2007

In memoriam

Neulich ist Siggi Roth gestorben.
Im Jahr 1982 begann ich bei der „Sportaufnahme“ der Trierer Lokalzeitung und machte den Job, von einer einjährigen Unterbrechung abgesehen, bis 1998, sogar durch die Zeit des Wehrdienstes hindurch. Es war ein blinder Nebenzweig der Sportredaktion, besetzt mit Leuten, die das zusätzliche Honorar brauchen konnten. Sonntagabends wurden Ergebnisse und Spielberichte des Regionalfußballs durchgegeben, auf vorsintflutliche Gerätschaften (wiederbespielbare Platten!) aufgezeichnet und dann in die Schreibmaschine gehämmert. Die freien Mitarbeiter, die draußen in der Region die Ergebnisse sammelten und telefonisch durchgaben, waren nicht selten angeheitert oder besoffen, so dass die richtige Schreibweise von Torschützennamen in der Montagszeitung meistens auf Zufall oder Scrabble-Experimenten unsererseits beruhte.
Zur Crew gehörte auch der heutige Chefredakteur des Trierer Bistumsblatts, jung und langhaarig war der damals noch. Und eben auch Siggi Roth. Er war Festangestellter des Hauses und betreute zusammen mit einem Herrn namens Wolf den Aufnahmeraum. In dem gingen Nachrichten aus aller Welt ein und aus. Das Internet war noch ein feuchter IT-Traum, damals lief das alles über Telex, Fernschreiber oder Telefon. Die Sache wurde erst in den folgenden Jahren schrittweise moderner.
Herr Wolf ging irgendwann in Rente und starb wenig später. Er war ein Kettenraucher alter Schule; der Aufnahmeraum glich stets einer wabernden Nebelbank. Kollege Roth verblieb im Haus, wurde später in den Abteilungen herumgeschoben, ehe auch er in Rente ging, bald darauf einen Schlaganfall erlitt und zum Pflegefall wurde, was man so hörte. Ich weiß nicht, wie schlimm sein Zustand in den letzten Jahren war. Nun, am 20. August, ist er im Alter von 64 Jahren gestorben und ließ sich anonym bestatten.
Sicher war er etwas seltsam und nicht bei allen beliebt. Der Nachruf der Zeitung auf den eigenen Traueranzeigenseiten soll recht schmal ausgefallen sein. Ein fleischiger, jovialer Typ war er, der einen mit seiner No-Bullshit-Einstellung schon manchmal gewaltig nerven konnte – und mit seinen Verschwörungstheorien, die sich auf die Weltpolitik ebenso bezogen wie auf die Interna im Verlagshaus. Lange Jahre kam er mit dem Mofa angeknattert, den ganzen weiten Weg aus Konz. Begeisterter Angler war er und trat für einen "verantwortungsvollen Umgang" mit dem Flossentier ein. Er hatte eine geistig behinderte Tochter, klagte aber kein einziges Mal darüber, sondern sprach, wenn die Rede auf sie kam, immer zart von „seinem Mädchen“. Als ich den Job schließlich aufgab, war Siggi Roth immer noch im Haus, und ab und zu trafen wir uns in der Stadt und hielten ein Schwätzchen, der Dicke und ich. Seine Lache war irgendwo zwischen schallend und keckernd. Mit meiner später dazugestoßenen Kollegin Christina hat er sich sehr gut verstanden, weil beide Diskussionen mochten. Ich weiß gar nicht, ob sie von seinem Tod weiß. Wenn ich's recht überlege, weiß ich nicht mal, wo sie überhaupt abgeblieben ist.
Also, trotz anonymer Grabstätte und womöglich verwehter Urnenasche – die Erinnerung an Siegbert Roth ist hiermit schriftlich fixiert worden und ins Internet eingegangen.

Donnerstag, 23. August 2007

Klimawandel abgewendet

Ich sitze an der U-Bahn-Haltestelle Kalk-Post auf einer Bank und warte auf die Linie 9. Da kommt diese dicke, ältere Frau mit Trolley und Aldi-Garderobe – Typus „Risikogruppe-in-vierlerlei-Hinsicht“, wie man sie in Kalk des Öfteren sieht – und lässt sich mit einem laut vernehmlichen „Hoppala“ direkt neben mich plumpsen, obwohl noch jede Menge weitere Bänke frei sind. Ich ahne, was kommt.
„Ist wieder warm geworden“, informiert sie mich.
Ich begehe einen Fehler, indem ich antworte: „Ja, gestern dachte man noch, es wird schon Herbst.“
„Da trocknet wenigstens die ganze Nässe.“
„Hm.“
„Dabei sind wir noch gut weggekommen.“
„Hm?“
„Also im Vergleich zum Ruhrgebiet.“ Ich verstehe: Sie meint damit die Überschwemmungen zwei Tage zuvor.
„Hm.“
„Wir müssen einfach viel mehr Energie sparen.“
„Hm. Ja.“
„Es wird ja alles immer schlimmer!“
„Hm, wird es.“
„Ist alles dieser Klimawandel!“
„Hm, Klimawandel. Ja.“
„Wo soll das noch hinführen?“
Ein Schulterzucken meinerseits.
„Wird ja alles verpestet!“
„Ja, alles.“
„Keiner macht was!“
„Nee, die reden alle nur.“
„Jahaa, das könnense laut sagen. Müssen alles wir kleinen Leute machen. Und die da oben … nix als Scheißdreck machen die ...“
Die Frau hält inne, schnaubt verächtlich, fummelt sich eine Zigarette aus der Jackentasche und zündet sie an, trotz unterirdischen Rauchverbots. Ich verzichte darauf, sie zu belehren: Nicht wegen des überall angeschlagenen Verbots, sondern weil nicht nur Flamme und brennender Tabak Sauerstoff aus der Atmosphäre ziehen, nein, die Studien besagen auch, dass besonders Einwegfeuerzeuge mit ihren Unmengen von CO2 die schlimmsten Klimakiller überhaupt sind.
Die Bahn kommt. Ich lasse der Dame den Vortritt, wie es sich gehört, und wende mich im Waggon dann in die entgegengesetzte Richtung als die, die sie mit ihrem Trolley nimmt. Dennoch: ein hoffnungsvolles Gespräch. Wenn das Thema bereits in die Bewusstseine Kalker Risikogruppen eingedrungen ist, dann darf man halbwegs zuversichtlich in die Zukunft blicken. Noch ein kleiner Schubs in die richtige Richtung durch all die hysterischen Auguren und Kassandras (und natürlich Weltenrettersender PRO7), und der Klimawandel darf als erledigt betrachtet werden.

Mittwoch, 22. August 2007

Komplettes Rätsel

Gestern gab’s einen Beitrag der Sendereihe „37 Grad“ (ZDF) über drei beinharte weibliche Fans, jede auf ihre Art hingebungsvoll an einen Künstler gebunden. Ein Teenie-Girl, das Sarah Connor anhimmelt. Soweit halbwegs normal und bekannt, inklusive der erschütternden Naivität, die diese Sängerin als eine messianische Figur begreift und nicht als das, was sie ist: ein kühl kalkuliertes Industrieprodukt, das jungen Mädchen Anteilnahme an ihrer Gefühlswelt vorgaukelt. Dann eine gesundheitlich angeschlagene Endfünfzigerin, die es mit Roy Black hat. Devotionalienschrein im Keller nebst Devotionalienarchiv, Roy-Black-Rose im Garten und duldsamem Ehemann. Auch nichts allzu Irritierendes, teils sogar richtig rührend.
Fall drei hingegen war rätselhaft. Eine 30jährige Bauzeichnerin steht auf Walzertorte André Rieu. Diese junge Frau, die ihr Leben durchaus noch vor sich hat und grundsympathisch wirkt, verfügt über zwei Beine, zwei Arme, einen Kopf, blondes Haar (keck zu Girlie-Zöpfen geflochten), einen Hintern und Busen, hat einen Beruf und ein Auto, ist modern gekleidet und eine mehr als aparte Erscheinung. Will sagen: Mit der scheint sonst eigentlich alles in Ordnung. Dann sagt sie jedoch Dinge wie: Wenn Rieu (58) morgen beschließen würde, die Geige an den Nagel zu hängen, hätte sie ein ernstes Problem. Sie gibt freimütig zu, dass sie bei SEINEN Konzerten stets die Jüngste im Publikum ist, und behauptet, dass ER sie genau deswegen von der Bühne herab länger anschaut als die anderen, während sie zugleich die erotische Komponente ihrer „Beziehung“ verneint: ER sei zu alt für sie, ja, sie halte IHN schon für einen attraktiven Mann und würde auch sicher gerne mal mit IHM essen gehen, aber nein, um diese Art von Verhältnis ginge es ja gar nicht.
Ich ertappe mich dabei, fasziniert zu sein. Niemals habe ich von „so einer“ gehört. Wenn sie wenigstens Hartmut Engler von PUR anhimmeln würde, ja, das ließe sich verstehen. Das ist der scheußlichste Sänger von der scheußlichsten Band der Welt, aber es wäre zumindest verständlich. Es wäre irgendwie normal, denn dem fliegen solch empfindliche Frauenherzen doch zu wie aus der Tenniskanone geschossen. Hört man zumindest. Aber Walzerbacke Rieu? Ich meine, wie tief muss man mit Dreißig schon gesunken sein, um …?
Die Küchenpsychologie in mir arbeitet auf Hochtouren. Die junge Frau hatte eine schwere Kindheit, mutmaße ich, ihre Eltern haben sich früh getrennt. Oder sind früh verstorben. Und einen Kerl hat sie auch nicht, nie einen gehabt, mit dem sie etwas anfangen konnte, oder sie konnte denjenigen, der etwas taugte, nicht halten. Irgendsoein Trauma wird wohl dahinter stecken. Ich liege vorerst völlig falsch, wie sich bald darauf herausstellt. Ihre Eltern erfreuen sich bester Gesundheit, sind selbst beinharte Rieu-Fans und haben ihre Leidenschaft an die Tochter weitergegeben. Der Mutter scheint es insgeheim fast ein bisschen peinlich, dass Töchterlein durch sie auf diesen Trip geraten ist. Die Mutter hat es auf unartikulierbare Weise im Urin: Gutgewachsene Dreißigjährige sollten ihre Freizeit eigentlich nicht damit verbringen, stundenlang Rieu zu hören, auf Video zu schauen und anzuschmachten. Und dann noch eine Überraschung: Sie ist längst verheiratet. Der Ehemann kann allerdings mit ihrer Leidenschaft wenig anfangen, taucht in dem Beitrag nur als stummer Statist auf und verlässt dann – irgendwie symbolisch – das Haus. Als er weg ist, sitzt sie im Wohnzimmer und erzählt wieder davon, Rieu sei zwar erotisch, aber wohl doch zu alt für sie – als müsse sie sich das einhämmern, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Ich fange an, vor Entsetzen zu zittern, aber da ist die Sendung schon vorbei. Ich fordere vom ZDF eine „extended version“ dieses einen Falls, eine 120-Minuten-Doku über das Leben und den Alltag dieser komplett rätselhaften jungen Frau. Für meine Gebühren möchte ich nicht so holterdipolter abgefertigt werden, sondern gefälligst wissen, was da falsch gelaufen ist. Ob man die junge Frau eventuell zu diesem oder jenem Zeitpunkt ihres Lebens hätte retten können, bevor sie für sich selbst die Hölle wählte. Und warum grinst und kichert ihr Vater immer so merkwürdig?

Sonntag, 19. August 2007

Jan vom goldenen Stern

Diese Kinder-Mini-TV-Serie, in späteren Wiederholungen ein einzelner 90-Minüter, wurde im Sommer 1979 vom WDR in unserem Dörfchen gedreht. Regie: Peter Podehl, der auch an Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt verantwortlich mitgewirkt hatte. Meine Oma starb in diesem Sommer, und die Dreharbeiten mussten während der Beerdigung ruhen, weil die Filmleute kein störendes Glockengeläut auf ihren Bändern haben durften. Der Drehort befand sich direkt unterhalb des Friedhofs. Ich besaß damals als einziger Dorfknabe ein Autogramm vom Hauptdarsteller (gleiches Alter wie ich und schon ein Star!). Ich lauerte ihm irgendwann nach Drehende auf, und er schrieb, mit meinen Schultern als Unterlage, seinen Namen auf einen Block. Purer Glamour. Man hat seitdem nie wieder etwas von ihm gehört. Balthasar Lindauer hieß er, heißt er vermutlich heute immer noch. Eine kleine Googelei klärt darüber auf, dass ein Mann gleichen ungewöhnlichen Namens heute "stellvertretender Direktor der Abteilung für Nukleare Sicherheit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London" ist. Das hört sich nach Karriere an, allerdings in einem gänzlich anderen Milieu.
Das alte Pfarrhaus diente als Haus der zentralen Filmfamilie, eine Menge Statisten aus dem Dorf durften in einigen Szenen mitspielen. Viele von ihnen weilen längst nicht mehr unter uns. Thekla Carola Wied spielte mit, bevor irgendwer sie kannte. Und der männliche Hauptdarsteller Lutz Hochstraate, damals gerade mit einer Pfarrersserie im Fernsehen, war im wirklichen Leben der Lebensgefährte von, festhalten bitte!, Barbara Rütting!!! Und die kam auch vorbei, ihren Schatz besuchen. Was für ein Starauftrieb. Atemlosigkeit war der Normalzustand im Sommer '79.
Die Serie lief im Frühjahr 1980 im Fernsehen. Damals waren wir irre spitz drauf, das Ergebnis zu sehen. Es gab noch keine Videorecorder; ich nahm den Ton, nur den Ton, auf einem Cassettenrecorder auf. Ich schaute es und nahm es auf bei Großtante Nini, die im Gegensatz zu uns einen Farbfernseher besaß. Sie hustete dauernd dazwischen. Auch sie weilt nicht mehr unter uns, und die Bänder mit ihrem Gehuste sind ebenfalls verschwunden.
Viele Jahre später, bei einer Wiederholung, wurde ich gewahr, dass dieser Dreiteiler so ziemlich der schlechteste und manipulativste Kinderfilm aller Zeiten war. Es ging oberflächlich um einen Burschen, der von einem anderen Planeten durch ein Dimensionstor oder sowas auf die Erde plumpst und hier Kal-El-mäßig über allerhand Superkräfte verfügt. Bald hat er den MAD an den flinken Hacken, aber politisch aufgeklärte, linksgedrehte Patchwork-Familie mit extrem nerviger Tochter rettet und versteckt ihn. Unter dem kleinen Abenteuer wimmelt es von Subtext: Scheiß-Nachrüstung, der Staat ist böse, Journalisten sind manipuliert und gekauft, der Rest der Menschheit auch, wir werden alle heimlich überwacht, Außenseiter werden gejagt, und überhaupt - wir haben gar nichts getan! Am Ende flieht die sympathische Kotz-Familie mit dem goldenen Jan durchs Dimensionstor auf dessen Welt. In unserer Welt gründeten sich kurz darauf die Grünen. Da hätten Thekla und Lutz vielleicht noch ein bisschen warten sollen mit ihrem extraterrestrischen Eskapismus.
Ein ganz typisches WDR-Produkt aus jener Zeit, das Drehbuch hat vermutlich die Redaktion von Monitor geschrieben. Hölzern gespielt, bieder gefilmt, unglaublich schlecht getrickst. Eine echte kreative Totgeburt. Aber hurra, ich bin dabei gewesen!

Lasst die Puppen tanzen

Vor Jahren tauchte aus dem Nichts dieser Detlef Soost auf und durfte überall seine Ideologie verbreiten. Die hörte sich beim ersten Mal auch gar nicht so verkehrt an. Mach es so wie ich, sagte er, arbeite an dir und komm aus der Gosse ganz nach oben. Ehrgeiz, eiserner Wille und Disziplin sind gefragt, eventuell auch Talent, wenn's sein muss. Auf jeden Fall aber eine große Schnauze. Das Talent von Detlef Soost, der - ganz Reduktionist - sich fortan D! nannte, erstreckte sich auf den brutalisierten diskothekenkompatiblen Ausdruckstanz – oder wie immer man das Gehüpfe nennen will, das er vorführte. Sogar das ZDF gönnte ihm eine Betroffenheitsdoku und wies ihn aus als jemanden mit einer Mission: Das eigene Modell des Hart-an-sich-Arbeitens wollte er der Allgemeinheit zur Verfügung stellen, natürlich mit sich selbst als Vortänzer. Andere können auch so werden wie er. Soost öffnete seine soziale Ader und gab kund, die Kids mit seinen Projekten von der Straße zu holen, vergleichbar mit den Box-Trainern, die in sozial unterdeterminierten Stadtvierteln Kurse für Jugendliche anbieten, um Aggressionen zu kanalisieren und kathartisch abzuarbeiten. Ein bisschen Anerkennung fällt dabei vielleicht auch noch ab. Soost wollte nicht boxen, nein, sondern die Jugend zum Tanzen bringen. Eine Illusion, die schon damals unter ihrer idealistischen Oberfläche schrecklich nach kontrolliertem Faustrecht müffelte.
1964 drehte Sidney Lumet den Film The Hill (deutscher Titel: Ein Haufen toller Hunde). Darin geht es um ein britisches Sträflingslager in Nordafrika, in dem während des 2. Weltkriegs straffällig gewordene Soldaten resozialisiert werden sollen. Das Drehbuch, nach einem Theaterstück entstanden, ist unglaublich präzise; veredelt wird das Ganze durch eine Konzentration von Schauspieltalent, wie man sie selten zu sehen bekommt: Sean Connery, Ian Bannen, Ian Hendry, Harry Andrews, Michael Redgrave, Ossie Davis, Roy Kinnear, Jack Watson und und und. Der Film gilt als eines der heftigsten und leidenschaftlichsten Plädoyers gegen die „Kultur“ des Militärs überhaupt, gegen die faschistoiden Tendenzen, die jeder Armee der Welt innewohnten und wohl auch weiterhin innewohnen. Die Individuen werden gebrochen, um danach wieder aufgebaut zu werden, ganz nach den Maßgaben des Militärs. Sie werden wieder zu brauchbaren Soldaten und Kanonenfutter. Die Sträflinge wehren sich mit Intelligenz, Individualität und schließlich auch mit Gewalt gegen die Misshandlungen. In diesem Film sitzt jede Geste und jeder Satz, hier wird mit Leidenschaft argumentiert, und nebenbei ist The Hill ausgesprochen komisch. So war das noch in den Mittsechzigern.
Die Botschaft des Films ist inzwischen vergessen, heute gibt es jedoch Detlef Soost, der eiskalt das wiederholt, was Harry Andrews in Gestalt des Hauptfeldwebels in The Hill den Neuankömmlingen im Lager mitteilt. Er zeigt auf das Tor, das sich gerade hinter ihnen geschlossen hat, und meint: „Wenn ihr hier fertig seid, werdet ihr da heraustanzen wie die Puppen!“ Das hätte Harry Andrews gern, aber es geht natürlich ganz anders aus, dieses Drama.
Nicht so bei Soost. Da funktioniert alles. Seine wackelige, aber sympathische „Aus dem Loser wird ja doch noch was“-Ideologie ist auf dem Weg zu „Popstars“ umgekippt und wälzt sich im Staub von Bootcamp und Umerziehungslager. Soost erzeugt mit seinen vorgeblichen Sozialtherapien keine selbstbestimmten Individuen, das war nie seine Absicht, sondern Puppen, mit denen er sein brüchiges Ego (und natürlich seine Konten) füttert. Soost ist das Update von Harry Andrews: Er erschafft aus Sand und sozialem Lehm Kanonenfutter für die Medienwelt. Und wenn die Püppchen verheizt sind und als Moderatorenimitationen bei „Neun Live“ enden, kommt eben der nächste Schwung ins Lager, die nächste Staffel „Popstars“.
Diese Sendung hat Chuzpe. So fest wurden Sozialdarwinismus, Menschenverachtung und Kommerz noch nie zuvor zusammengebacken.
The Hill ist übrigens skandalöserweise nicht auf DVD erschienen, und das VHS-Band kriegt man auch nirgendwo.

Mittwoch, 8. August 2007

Quiekie und Kamps

Quieki und Klein-Kamps sind in den Hafen der Ehe eingefahren. Das, was die beiden erlebt haben, möchte man nicht unbedingt als Hochzeitstag bezeichnen, aber so ist das eben, wenn die Medienhuren-Verträge vorsehen, dass die Zeremonie live in der Prime Time gesendet wird und es erst gegen 22 Uhr zum Jawort kommt.
Der geneigte Zuschauer musste sich durch mehr als anderthalb quälende Stunden schleppen, organisiert von zwei entzückenden Arschloch-Moderatoren (Steven Wersdas und Natascha Habichvergessen) und mit gelegentlichen Aufnahmen von Bodensatz-Prominenz (Kai Ebel, Scooter) und Tischen voller grauenhafter Geschenke, wie etwa dem "Gemälde", das Kai Ebels Freundin, eine (hmm) Künstlerin, eigenhändig mundgeblasen hatte. Ebel, nun ja, das ist so einer, der früher nie eine Freundin hatte, weil alle Mädchen ihn für mordsmäßig peinlich hielten. Und zu schwabbelig war er auch. Aber dann, nachdem er plötzlich im Fernsehen auftauchte und auf RTL-Kosten um die Welt jetten durfte, bekam auch er das ein oder andere Boxenluder ab, diesmal sogar eins mit, hmm, künstlerischen Ambitionen.
Heimlicher Star des PRO7-Abends war m.E. jedoch der Rolf-Seelmann-Eggebert-Ersatz, den PRO7 als kundigen Off-Kommentator engagiert hatte. Dieser Mensch namens Torben Soundso gab freimütig zu, noch nie bei einer Hochzeit anwesend gewesen zu sein, und schwärmte ergriffen im besten „Was bin ich heute wieder schwul!“-Timbre dauernd etwas von wunderbaaar und schööön. Immerhin: Es passte, denn er war bloß das rhetorische Äquivalent zum Patsche-Patsche der Braut, die an diesem Abend größtenteils mal die Fresse halten musste. Also hat man irgendwo den schlimmsten Dummschwätzer ausgegraben, damit der Zuschauer auch bloß keine Entzugserscheinungen zeitigt.
Und das alles am schönen Ostseestrand bzw. an dessen angeberischster Ecke. Die vom Zuschauer herbeigesehnte Sturmflut blieb leider aus, und auch in der Kommentatorenkabine brach bedauerlicherweise kein Brand aus.
Zudem gab es noch Quiekis Brautkleid, das eher in einen Night Club gepasst hätte, per schwarzem Privathelikopter aus London einfliegende fingierte „Freunde“ des Paares und den Bräutigam, der mit dem geschmacklosesten Lamborghini vorfährt, den er finden konnte. Er mault, der Wagen sei unbequem. Ja, hat er sich den nicht zuvor anpassen lassen?
Während der heiß ersehnten Zeremonie stimmt dann etwas mit der Ausleuchtung nicht: Kamps scheint wie aus Kerzenwachs modelliert, und die Birne brennt ihm auch schon; die Braut hat offenbar vor dem Auftritt noch eine Runde auf dem Wienerwald-Grill gedreht, und die Bräutigam-Mutter wirkt mit ihrer Schminke wie eine Nebendarstellerin aus Dawn of the Dead, der Originalfassung von 1978. Vermutlich war die Visagistin ziemlich teuer. Die Show jedenfalls war spottbillig.
Die eigentliche Zeremonie wurde völlig vergeigt, und ein Fauxpas reihte sich an den nächsten. Rolf Seelmann-Eggebert hätte den Abend mit Durchfall auf dem Klo verbracht. Braut und Bräutigam sind es nicht gewohnt zuzuhören, weswegen sie bei der Philosoph Roger Cicero (!) zitierenden Standesbeamtenansprache zappeln wie die Aale und gar nichts mitkriegen, aber das Allerschlimmste ist die von Kumpelhumorschüben (ähm … kicher) geprägte Rede des Schmierlappen-Trauzeugen, die 1) schrecklich ist und 2) nicht in eine solche Zeremonie gehört, sondern zum lockeren Beisammensein danach. Da könnte man eventuell auch vor ihr fliehen, indem man pinkeln geht oder eben mal bewusstlos unter den Tisch sinkt. Den Standesbeamten, der dies zuließ, sollte man aus dem Staatsdienst entfernen und zum Steinebrechen nach Sachsen-Anhalt schicken. Danach zerrt Kamps die Braut förmlich weg von der Location auf einen Balkon, von wo aus sie genießen können, wie unter ihnen auf der Bühne Scooters neue Single zu, ähm, Gehör gebracht wird.
Am reizvollsten erwies sich indes die Affäre um Vater Kamps. Die Presse verbreitete im Vorfeld, der Brötchen-Trilliardär wolle nichts mit dieser Veranstaltung zu tun haben. Der PRO7-Moderator beeilte sich anfangs mitzuteilen, dass Vater Kamps sehr wohl komme (ätsch, Presse!). Lustigerweise wurde der Geldbeutel jedoch nie wieder erwähnt, geschweige denn gezeigt. Es steht zu vermuten, dass er eine einstweilige Verfügung gegen PRO7 angestrengt hat, bei der Hochzeit seines wohlgeratenen Sohnes bloß nicht im Bild aufzutauchen. Das macht den Mann ja schlechterdings sympathisch.
Es ist vollbracht, Quieki ist unter der Haube, und das Universum rückt wieder ein Stück weit weg vom Zustand der Entropie. Bis zur PRO7-tauglichen Scheidung im Reality-Format.

Freitag, 3. August 2007

Model und Freak

Eine weitere Großtat von PRO7, obwohl es da natürlich einiges an Begriffsverwirrung gibt. „The Model and the Geek“ heißt das Originalformat, in Deutschland wird der „Freak“ daraus. PRO7 weiß um die Ahnungslosigkeit seines Publikums und dichtet um. Der Freak ist im herkömmlichen Sprachgebrauch entweder eine „körperbehinderte Jahrmarktattraktion“ früherer Tage oder ein „halbwegs unverständlicher Enthusiast“. Die Buben, die in der Sendung vorgeführt werden, sind jedoch klassische Geeks = Hanswürste.
PRO7 dreht dabei einfach mal die Machtverhältnisse herum. In Wirklichkeit sind es natürlich die Geeks, die die Welt beherrschen. Sie gründen Softwarefirmen und werden zu Milliardären, sie entwickeln in Labors Mittel gegen Gebärmutterhalskrebs, sie erfinden TV-Monumente wie die Simpsons. Auf PRO7 regieren jedoch die Models die Welt, oder das, was heutzutage als Models durchgeht: ukrainische Prostituierte mit gebrochenem Deutsch („Du bist einen geilen Sau!“), die unlängst von einem besoffen grölenden Publikum in München zur „Miss Wies'n“ gewählt wurden. Nach Michel Friedmans Läuterung sind die Damen offenbar reichlich beschäftigungslos, weswegen sie Angebote vom Fernsehen gerne annehmen. Sie sehen völlig gleich aus, bis auf die Haarfarbe. Aber die kann, wie man beunruhigenderweise hört, heutzutage ja auch nach Belieben manipuliert werden. Es macht diesen als Frauenimitation zurechtlackierten Hohlholzkörpern sichtlich Spaß, Rache zu üben am anderen Geschlecht und dessen weniger dominante Vertreter vorzuführen. Die armseligen Geeks werden, wie einst gegnerische Agenten, umgedreht zu willfährigen Vertretern der eigenen Ideologie, zu schnuckeligen Hipness-Schablonen, in welche die geekigen Charaktere jedoch einfach nicht hineinwachsen wollen oder können. Sie stehen danach genauso verloren da wie zuvor.
Leider, leider jedoch wird den armen Säcken der letzte Schritt dieses Veredelungsprozesses vorenthalten. Natürlich geht es ausschließlich um sexuelle Attraktivität, um die Aufwertung des quasi-autistischen Verhaltensgestörten zum attraktiven Mann, wie ihn sich „Models“ vorstellen. Am Ende klopfen sich die Mädels auf die Schultern und sind mordsmäßig zufrieden mit sich, den teilgewendeten Geek lassen sie jedoch allein zurück. Sie hätten ihm zumindest so viel Bestätigung zukommen lassen können, ihn vernünftig zu initiieren und gratis durchzunudeln.

Mittwoch, 18. Juli 2007

Neues von Kamps jr.

Gülcans Bräutigam befindet sich mit der ganzen Bagage gerade in der touristisch erschlossenen Türkei. Urlaub in Verbindung mit Hochzeitsvorbereitungen. Während die Damenwelt sich gegenseitig knuddelt und dumm herumquiekt, gönnt sich der kleine Kamps in Istanbul eine Wasserpfeife. Sein Kumpel und Trauzeuge, ein Schmierlappen erster Güte, stößt hinzu und will Sightseeing machen. Auf solche Ideen kommt der Witzbold an touristisch erschlossenen Orten schon mal, wohingegen Kamps eher nichts von Kultur hält und eigentlich viel lieber mit einem geilen Auto rumbrettern würde. Er lässt sich jedoch breitschlagen, mit in die Hagia Sophia zu gehen, immerhin einst die größte Kirche der Christenheit und mit Säulen, in deren Durchmesser unser Haus hier hineinpassen würde. Und Gewölben, dass einem schlichtweg schwindlig wird. Die Kamera schwenkt desinteressiert ein bisschen in die besagten Gewölbe hoch, Kamps schaut sich gelangweilt um und meint dann, das habe ihn "jetzt nicht so geflashed". Es sei sicher sehenswert, ja doch, aber allein wäre er hier bestimmt nicht hingegangen, nein.
Seine Braut, das Quiekding, lässt derweil ihr Hündchen ausgiebig am Cocktail schlabbern, probiert ihn danach und meint, er schmecke noch normal. Während einer Pferdekutschenausfahrt mault Kamps, er säße jetzt lieber in einem fetten Auto statt in so'ner stinkenden Kutsche. Und schlägt seiner Braut vor, sie solle in den Sack mit Pferdeäpfeln kotzen, den der Kutscher vorne mitführt. Danach machen er und sein Quiekmonster plötzlich auf Prinz und Prinzessin und huldigen an einem einsamen Abgrund neben dem Straßenrand ihrem imaginären Volk, das ihnen unten zujubelt. Schade, dass niemand den Fahrer der Mietdroschke bestochen hat, damit er sie hinabstößt. Wäre lustig geworden zu sehen, ob sie da unten jemand auffängt oder nicht.
Immerhin eine gute Nachricht: Kamps hat offenbar einen Deal mit PRO7, ihn beim Baden in der Ägäis (Basislager: eine echte Angeber-Mietjacht) nicht mit nacktem Oberkörper zu zeigen. Aber das enge T-Shirt, das er, wieder an Bord, übergeworfen hat, verrät genug. Der Kerl ist wirklich reichlich speckig, meine Herren! Unterschicht hat nichts mit den Finanzen zu tun.
Aargh, was für ein schlimmes, schlimmes Universum!

Dienstag, 17. Juli 2007

Frank Jöricke

Ich propagiere hiermit offiziell den neuen deutschen Star-Autor. Wir gingen zusammen zur Schule, studierten nebeneinander, hörten miteinander Musik und hassten den Stil des anderen, gingen ins Kino und verachteten den Geschmack des anderen. Na ja, manchmal vielleicht. Hinter Wasserbilliger Tankstellen diskutierten wir bei einem Six-Pack die elenden Weiber aus und masturbierten zu SPEX-Artikeln. Schließlich gingen wir aufs Ganze und hatten Sex miteinander, auf dem Klo besagter Tankstelle. Nee, ein Scherz. SCHEHERZ!!!
Der Mann gilt als publizistischer Entdecker von Guildo Horn (hm, ja, ich weiß ...). Und jetzt will ich mich in seinem Lichte sonnen, indem ich auf seinen ersten Roman hinweise. Nach dem Probelesen habe ich wohl sowas geäußert wie "Heimat für die Pop-Generation". Es erfreut, es ist witzig. Kaufen also - und auf Talkshows achten!

Donnerstag, 5. Juli 2007

Speckig

Ich gucke jetzt immer die neueste C-Promi-Traumhochzeits-Reality-Soap auf PRO7, "Gülcans Traumhochzeit", danach hämmere ich mir noch eine Viertelstunde etwas von dieser alten David-Hasselhoff-Langspielplatte in den Kopf, einfach nur um den IQ wieder etwas zu fordern.
Es ist gar nicht so sehr dieses unerquickliche, blonde Patschepatsche-Quiekding, das mich interessiert. Ich bin für solche Mentalitäten zu alt und zu mürrisch, für solche Gespräche zu klug. Das blondierte Migrantenkind geht mir am Allerwertesten vorbei. Nein, es ist der Typ des Quiekdings, der mich unangenehm anmacht. Ich mag ihn und seine Bagage einfach nicht, und diese Ablehnung geht anscheinend tief. Ich erforsche mich dabei sozusagen selbst, wenn ich ihr zuschaue, dieser unschuldig vermögend gewordenen Spaßgesellschaftsspeckschwarte mit dem Zynikergrinsen, das einem irgendeine Weisheit suggeriert, die jedoch nirgendwo vorhanden ist. Dieser gelassenen Überlegenheit gegenüber einer Welt, die ihn komplett am Arsch lecken kann, Hauptsache er darf dicke Schlitten über die Kö fahren und sich Gedanken darum machen, ob der Frontspoiler die Einfahrt ins Parkhaus übersteht. Es zeichnet sich ab: In zehn Jahren wird dieser gelernte Konditor so fett sein und so unansehnlich mit seinen Männerbrüsten, dass er genauso aussieht, wie er sich offenbar heute schon fühlt: feist, satt, flatulierender Herr eines Imperiums von Konditor-Speckschwarten. Fragt sich nur, ob er dann noch in einen Lamborghini passt.
Aber natürlich spekuliert PRO7 auf diese Gefühle beim Zuschauer. Die quiekigen Fans des blonden Quiekdings auf der einen Seite und die womöglich sozialneidischen Hasser wie mich auf der anderen Seite. Ja, ich glaube, ich will auch mal dumm und fett sein und nicht mehr in meinen Lamborghini passen.
Eine faszinierend eklige Welt. Ich forsche weiter.